Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
wenigstens bis Weihnachten bei uns bleiben.«
»Und dann? Ich weiß, meine Frage ist vermessen. Aber … kann ich nicht für eine Weile bei Ihnen bleiben? Sie sind alle so gut zu mir, und ich denke, ich könnte mich nützlich machen: bei der Kinderbetreuung oder auch bei der Exkavation, wenn Sie mich entsprechend anweisen.«
Sie war nicht nur glücklich bei uns, sie war auch unglücklich mit ihm. Ich hatte mich schon gefragt, was in aller Welt er mit ihr anzustellen gedachte. Er reiste viel, genau wie Margaret. Sie hatten keinen festen Wohnsitz, und wie zum Teufel würde Margaret ihrer Rolle als Stiefmutter gerecht werden? Nicht gut, so wie ich Margaret kannte.
»Ich werde mit Ihrem Vater sprechen«, versprach ich und fühlte mich wie ein voll gepackter Esel, dem man einen weiteren Sack Getreide auf den Rücken wirft. »Vielleicht lässt sich da etwas machen.«
Aus Manuskript H
Ramses las Selim aus dem Autohandbuch vor (seine Tante Evelyn hatte kapituliert), als die Tür aufging und Sethos den Kopf hereinsteckte. »Sind Besuche erlaubt?«
Es war das erste Mal, dass er Selim nach dem Unfall sah. Selims onyxfarbene Augen strahlten und er betastete seinen Bart. Selbiger war gewiss beeindruckender als Sethos’ Manneszier, auch wenn diese wieder kräftig spross. Abgesehen von ein paar verblassenden Blutergüssen war sein Gesicht fast verheilt.
»Ja, komm rein«, forderte Selim ihn freudig auf. »Dass du noch hier bist!«
In eleganten, maßgeschneiderten Flanell gehüllt, lehnte Sethos grinsend im Türrahmen. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich die Familie in so einer Situation im Stich lasse? Nachdem du außer Gefecht gesetzt bist, benötigen sie jede nur erdenkliche Unterstützung.«
»Stimmt.« Selim wollte nicken, doch dann fiel ihm ein, dass er das nicht durfte.
»Ich danke euch beiden für eure Hilfe«, sagte Ramses.
»Du bist ein Ehrenmann«, erklärte Selim. »Er nicht.«
Sethos warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. »Du hast ins Schwarze getroffen, Selim. Was kann ich für dich tun?«
»Erzähl mir von dem Flugzeug«, drängte Selim.
»Ein anderes Mal. Fatima hat gesagt, dass ich gehen muss. Sie bringt dir dein Essen.«
Selim stöhnte. »Sie bringt mir Essen, Rabia und Taghrid bringen mir Essen, Kadija bringt mir Essen. Bald bin ich kugelrund.«
»Was wolltest du eigentlich von ihm?«, erkundigte sich Ramses, als sie in Richtung Haupthaus schlenderten. »Krankenbesuche sind doch gar nicht dein Stil.«
»Sei nicht zynisch. Ich mag Selim.« Sethos verharrte, um an einer rosaroten Rose zu riechen. »Aber du hast Recht. Ich wollte zu dir. Hast du nicht Lust, dich mit mir in das schillernde Nachtleben von Luxor zu stürzen? Schön hier«, bemerkte er nach einem sentimentalen Blick auf ein Rankgitter mit blauer Blütenpracht. »Wenn ich mich zur Ruhe setze, dann ziehe ich vielleicht nach Luxor. Dann wäre die ganze Familie komplett, was?«
Ramses überging den Seitenhieb. »Warum?«
»Um meine letzten Jahre im Kreise meiner Nächsten und Liebsten zu verbringen. Oh – du meinst, warum ich nach Luxor will? Ich hab da so meine Vermutungen.«
Sethos führte dies nicht weiter aus, sondern behauptete, er brauche ein unvoreingenommenes Urteil. Seine Erwähnung ihres Vorhabens wurde stirnrunzelnd aufgenommen, aber nicht kommentiert, wenigstens nicht bei Tisch. Als Ramses sich zum Umziehen zurückzog, begleitete Nefret ihn.
»Was soll das jetzt wieder?«, wollte sie wissen.
»Er meint, er wittert irgendwas.«
Interessiert verfolgte sie, wie er seine Anzüge durchging. »Schwarze Krawatte? Wo wollt ihr denn hin?«
»Das wollte er mir nicht sagen.«
»Irgendetwas Seriöses wenigstens«, versetzte Nefret. »Das beruhigt mich. Nimmst du dein Messer mit?«
»Es passt nicht zur Abendgarderobe.«
Sie erwiderte sein Grinsen nicht. »Es passt aber zu Onkel Sethos. Bitte, tu mir den Gefallen.«
Im so genannten Nachtleben von Luxor tummelte sich Unrühmliches wie Untadeliges. Die Cafés und Bars für Touristen lagen an der Corniche; einige waren relativ harmlos, aber Abendkleidung wäre in allen verpönt gewesen. In den Hotels, vor allem den ersten Adressen, fand das gesellschaftliche Leben der betuchten Besucher und Bürger statt. Die Touristenschiffe und Dahabijen am Kai muteten wie eine schmale, schaukelnde Prachtallee an. Lichter schimmerten auf den Decks und in den Salons.
Ihr erster Zwischenstopp war das Winter Palace, wo man Sethos offenkundig kannte und schätzte. Er war kritisch bei der
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