Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Bleib in meiner Nähe.«
Ich folgte ihm dicht auf den Fersen, als er sich zum Abteilende vordrängelte, damit wir als Erste aussteigen konnten. Der Zug blieb mit einem Ruck stehen. Ramses sprang schwungvoll auf den Bahnsteig und hob mich hinunter.
»Dem Himmel sei Dank!«, rief David. »Wir haben so gehofft, ihr würdet diesen Zug nehmen! Ich warte schon seit über einer Stunde.«
Ich musste gar nicht erst fragen, ob etwas im Argen läge. Seine tief besorgte Miene und sein knapper Händedruck sprachen für sich.
»Die Kinder«, entfuhr es mir, Abdullahs Warnung bedenkend. »Ist irgendwas …«
»Nein, sie sind wohlauf. Und damit das so bleibt, habe ich Vorsichtsmaßnahmen getroffen.« Er hastete weiter, zu einer wartenden Droschke. Ich musste laufen, wollte ich mit ihm Schritt halten.
Ramses raunte leise: »Nefret?«
David erzählte ihm schonungslos die ganze Wahrheit. »Ist fort. Der Professor und Maryam ebenfalls. Die Isis hat vor sechs Stunden abgelegt.«
Energischer als eigentlich erforderlich half Ramses mir in die Droschke. »Vor sechs Stunden. Was habt ihr inzwischen unternommen?«
David sank auf die Sitzbank uns gegenüber und gab dem Fahrer Anweisung. »Wir haben ihr Verschwinden erst vor wenigen Stunden bemerkt. Der Professor war zum Haus zurückgegangen, so nahmen wir jedenfalls an, aber da war er nicht, und …«
Die Lichter von Luxor rauschten an uns vorüber, die Kutsche schaukelte bedrohlich. »Konzentrier dich, David«, sagte ich. »Der Reihe nach. Und sag dem Kutscher, er soll langsamer fahren. Ich glaube, er treibt das Pferd mit der Peitsche an. Du weißt, dass wir das nicht dulden.«
Ramses sagte: »Weiter, David. Also, Vater war nicht im Haus …«
David hob die Stimme. »Keiner von euch war da! Als keiner zum Tee kam, dachte ich, ihr könntet im Schloss sein, folglich habe ich Ali dorthin geschickt. So viel verplemperte Zeit …«
Er warf die Hände vors Gesicht. Ich zupfte ihn am Ellbogen. »Selbstvorwürfe sind zwecklos, David. Nach meinem Empfinden hast du dich vollkommen richtig verhalten. So, und was war dann?«
David schob seinen Tropenhelm in den Nacken, holte tief Luft und fuhr merklich ruhiger fort: »Die Vandergelts kamen, mit Mutter und Vater. Sie erklärten aufgeregt, dass keiner von euch bei ihnen gewesen sei. Dann fiel uns auf, dass wir Maryam seit gestern Abend, Nefret seit Mittag nicht mehr gesehen hatten. Wir fanden die Notiz – eure Notiz – in der Praxis und wussten damit wenigstens, wo ihr zwei hinfahren wolltet. Wir mussten Nisrin ausfindig machen; sie hatte die Klinik zugesperrt und war nach Hause gegangen; sie erzählte uns, dass der Arzt auf der Isis nach Nefret geschickt habe. Der Junge sei krank, habe er gesagt.«
Weiterhin in vollem Galopp bog das Pferd auf die Corniche, und ich taumelte gegen Ramses. Er richtete mich mit eiskalten Händen wieder auf.
David brüllte den Kutscher an, worauf er die Fahrt verlangsamte. Auf den Straßen herrschte reges Treiben; es war zwar noch früh, gemessen an den Standards in Luxor, doch die vergnügungssüchtigen Touristen und diejenigen, die ihnen Selbiges boten, waren in Massen unterwegs. Das grellweiße Licht der Elektrobeleuchtung drang aus den Hotels, der sanfte Schein von Kerzen und Öllampen aus Geschäften und Häusern.
»Sobald wir Nefrets Ziel kannten, haben Bertie und ich uns nach Luxor übersetzen lassen. Dort stellten wir fest, dass die Isis abgelegt hatte. Die Händler und Ladenbesitzer entlang der Straße hatten Nefret an Bord gehen sehen. Sie kam nicht wieder vom Schiff.«
»Und Emerson?«, forschte ich, meinen Hut zurechtrückend.
»Du hast mich gebeten, der Reihe nach zu berichten«, gab David zurück. »Alles in Ordnung mit dir, Tante Amelia?«
»Selbstverständlich.« Ich hatte entsetzliches Magendrücken und hätte ihn am liebsten angefaucht.
»Wir sind gleich da«, sagte David nach einem Blick aus dem Fenster. »Kurz nachdem Nefret an Bord gegangen war, kam der Professor angeprescht. Er stürmte die Gangway hinauf, und das war das Letzte, was man von ihm oder Nefret gesehen hat. Kurz darauf wurde der Landungssteg eingezogen, und das Hausboot legte ab.«
»Man hat also gesehen, dass sie die Isis besucht haben«, sinnierte ich. »Die Augenzeugen hatten keinerlei Anlass, Verdacht zu schöpfen. Welchen Kurs hat das Schiff genommen?«
»Wir arbeiten dran.« Die Droschke hielt an. David sprang ab und half mir hinaus. »Ich kann es dir gleich sagen. Sabir erwartet uns mit seinem neuen Boot.«
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