Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
akzeptierte die Entschuldigungen seines Besitzers, hielt es aber trotzdem nicht länger auf der Bank aus. Ich stand auf und lief zu Ramses, der mit einem Mann und einer Frau mit Baby im Arm plauderte. Die junge Mutter stillte seelenruhig ihr Kind, während ihr Mann mit Ramses sprach und sich den Bauch kratzte.
»Hast du Hunger, Mutter?«, fragte er. »Sie wollen netterweise ihr Abendessen mit uns teilen.«
Der Mann fischte einen Kanten dunkles Brot aus dem Korb neben ihm und bot es mir an. Seine Hand wie auch das Brot starrten vor Schmutz, und er war bestimmt voller Flöhe, aber so freundlich, dass ich das Brot, Ungeziefer und Krankheiten in Kauf genommen hätte, indes vermutete ich, dass in dem Korb nicht viel Essbares sei. Sie waren sehr jung und ihre Kleidung ziemlich abgetragen.
Ich dankte ihnen in meinem besten Arabisch, erklärte, dass ich gerade gegessen hätte, und zog Ramses beiseite.
»Kannst du ihnen nicht etwas Geld geben?«, flüsterte ich. »Ohne sie gleich zu kränken?«
»Armut ist über jeden Stolz erhaben«, sagte Ramses mit gespitzten Lippen. »Ich kümmere mich darum, aber wenn ich großzügig Bakschisch verteile, will jeder etwas abhaben.«
Die leeren Gleise schimmerten im Licht des Sonnenuntergangs. »Zum Kuckuck«, platzte ich los. »Wo bleibt dieser verflixte Zug? Wir sind furchtbar spät dran, dein Vater wird toben.«
»Nefret auch. Aber sie werden uns verzeihen – Inschallah! –, wenn sie alles erfahren. Mutter, in ein paar Stunden haben wir diese Geschichte hinter uns gebracht. Nur Geduld.«
»Emerson wird es umhauen«, sagte ich, nicht ohne eine gewisse Genugtuung.
Ramses’ Miene entspannte sich. »Da könntest du Recht haben, Mutter.«
Eine Taube flatterte vor meine Füße, und Ramses fasste meinen Arm. »Mir wurde schlagartig ganz anders. Wer hätte damit gerechnet, dass Bertha zwei Kinder hatte?«
»Die Kinder des Sturms«, sinnierte ich. »Ist es nur ein dummer Zufall, dass Seth als Gott des Sturms und des Chaos galt?«
»Ja«, versetzte Ramses schroff.
»Schon gut, schon gut. Wie du bestimmt weißt, würde ich niemals irgendeinem Aberglauben … Dem Himmel sei Dank, da kommt endlich der Zug.«
Aus Manuskript H
Nefret hatte ein Stück Stoff um den Nagelkopf gewickelt. Das war ein gewisser Schutz, dennoch schmerzten ihr die Finger. Das Holz war weich. Sie hatte so viel weggeschabt, dass der Nagel ungefähr einen Zentimeter herausragte. Er bewegte sich ein wenig, als sie daran zog, saß aber noch immer tief im Holz und ließ sich nicht entfernen.
Die Öllampe war längst erloschen. In der lähmenden Dunkelheit schien die Zeit endlos langsam zu verstreichen. Ihre Kehle war staubtrocken und der Wasserkrug eine ständige Versuchung.
Inzwischen war sie sich ganz sicher, dass sie nicht aufgeben würde. Die kurze Zeitspanne mit Emerson war wie ein Adrenalinstoß für sie gewesen. Sie vermochte sich zwar nicht vorzustellen, was Emerson tun konnte, aber er hatte versprochen, sie zu befreien, und sie glaubte ihm vorbehaltlos.
Die anderen würden nicht untätig sein, allerdings könnte es eine Weile dauern, bis sie richtig kombiniert hätten – ihre und Emersons Abwesenheit, die Abreise der Isis. Wenigstens erführen sie Nefrets Ziel; Nisrin würde es ihnen mitteilen. Emerson hatte vermutlich niemanden informiert. Er war ihr unverzüglich gefolgt – nach dieser geheimnisvollen Geistesanwandlung, auf der Straße nach Deir el-Medina – und nur wenige Minuten nach ihr eingetroffen.
Wären sie nicht getrennt worden, wüsste sie jetzt, an was er sich erinnert und warum er sich danach an ihre Fersen geheftet hatte. Wenn das Dorf El-Hilleh der Schlüssel war, dann hatten Ramses und/oder seine Mutter dieses Wissen auch, und womöglich schwebten sie ebenfalls in Gefahr. Sie dachte an ihren Mann, stellte ihn sich im Geiste vor – die hohe Gestalt, die schwarzen, widerspenstigen Locken, sein umwerfendes Lächeln – und suchte eine Verbindung herzustellen. Sie hatte noch jedes Mal gespürt, wenn ihm Gefahr oder Tod drohten. Doch diesmal spürte sie nichts.
Sie wischte mit dem Ärmel über ihre feuchten Augen. Schweißperlen, keine Tränen, redete sie sich ein.
Maryam. Alles deutete auf Maryam. Emerson wollte nicht einsehen, dass das Mädchen die treibende Kraft war, weil er nämlich zu weichherzig und sentimental war! Wütend bearbeitete Nefret die Holzlatte. Der Nagel entglitt ihren tauben Fingern, sie hörte, wie er am Boden auftraf. Sie kniete sich hin und tastete danach –
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