Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
einsetzen zu können. Einzig der Zweikampf würde meinem berechtigten Zorn Genüge tun.
Ramses gesellte sich zu mir an die Reling. »Du knirschst mit den Zähnen«, stellte er fest.
»Ich habe hohen Blutdruck«, erklärte ich. »Ich werde Selim sagen, dass wir ablegen können.«
»Das brauchst du ihm nicht zu sagen.« Der Wind frischte auf, blies ihm das Haar aus der Stirn; wir nahmen bereits Fahrt auf, glitten von den Docks. »Ich wünschte, wir hätten einen Steuermann. Bertie und David verstehen ein bisschen was davon, ich auch, trotzdem sollten wir beten, dass wir nicht auf Grund laufen.«
Blutrot blinzelte die Sonne über die östlichen Klippen, die Tempel von Luxor versanken im Morgendunst.
Sollten die werten Leser eine Landkarte vor sich liegen haben, werden sie feststellen, dass der Nil von Luxor nicht schnurgerade nach Norden fließt, sondern in einem sanften Bogen nach Nordosten. Nach ungefähr sechzig Meilen schwenkt er in einer scharfen Kurve nach Westen um. Was das Lesepublikum freilich nicht sieht, sind die zahlreichen Biegungen und Buchten, die Inseln und Sandbänke, die den Verlauf des Nils unterbrechen. Was auf einer Landkarte winzig anmutet, sind in der Realität einige hundert Meter. Das von uns gesuchte Schiff konnte sich überall verbergen – oder mit einem erheblichen Vorsprung und hoher Geschwindigkeit einem uns unbekannten Ziel zusteuern.
Der Wind zerrte an meiner Kleidung. Die Amelia war recht schnell, besonders flussabwärts. Liebend gern hätte ich eine rasende Verfolgungsjagd aufgenommen, doch diesen Luxus durften wir uns nicht gönnen. Wir mussten auf die Signale von unseren Uferkurieren achten und Ausschau halten nach der verschollenen Dahabije.
Nach einer Weile trat Sethos neben mich. »Nasir hat Kaffee gemacht. Soll ich dir eine Tasse bringen?«
»Ja. Nein. Nasir sollte gar nicht mit an Bord sein. Er ist kein Kämpfer, er ist ein Steward, und kein besonders guter.«
»Fatima hat ihn hergeschickt. Mit so viel Proviant, dass wir eine ganze Kompanie versorgen könnten.«
»Jeder hilft auf seine Weise«, murmelte ich dankbar.
»Stimmt. Trotzdem ist es keine Hilfe, Amelia, wenn du die Leinen weiterhin so krampfhaft festhältst. Ich bin gleich zurück.«
Er kehrte mit Nasir zurück, der ein Tablett balancierte. Ich rettete die Tasse kurz vor dem Sturz, dankte ihm – und stellte entsetzt fest, dass der Junge ein langes Messer an der Hüfte trug.
»Oha«, seufzte ich, als Nasir wegstakste. »Wir müssen ihn aus sämtlichen Kampfhandlungen raushalten.«
»Sei mal ehrlich, Amelia.« Sethos lehnte über der Reling. »Du würdest Nasir oder sonst wen opfern, wenn du Emerson damit retten könntest.«
»Ja«, versetzte ich.
Wir sahen uns nicht an. Unsere Blicke waren auf die Uferlinie geheftet. Im Schutz von Palmenhainen standen die weiß getünchten Häuser eines Dorfes. Über den Dächern erhob sich das Minarett der Moschee. Zwei schwarz gekleidete Frauen mit Krügen auf den Köpfen strebten in Richtung Ufer.
»Wieso verlangsamen wir?«, wollte ich wissen.
»Wir warten auf das erste Signal«, klärte Sethos mich auf. »Die Fahrrinne ist hier sehr schmal, und wenn ein Dampfer gesichtet wird, springen alle hiesigen Händler in ihre Boote, um den Touristen irgendwelche Souvenirs zu verkaufen.«
Wir eilten alle auf die linke Bootsseite. Ein Wasserbüffel trottete durch das brackige Wasser, darüber, am Ufer, standen mehrere Leute, die eine Fahne schwenkten. Sie war knallgrün.
»Sie haben sie gesehen«, schrie ich. »Sie ist hier vorbeigekommen. Aber wann?«
»Grün bedeutet gestern«, sagte Sethos sachlich.
»Nicht sonderlich aufschlussreich«, murmelte ich, den Teller Brote wegschiebend, den Nasir vor mich hinstellte.
»Wir sind zwei Stunden von Luxor entfernt«, erklärte Sethos. »Das bedeutet, dass sie am Spätnachmittag gesichtet wurde. Und wir wissen, dass unsere Richtung stimmt. Es besteht immer die Möglichkeit, dass sie wendet und stromaufwärts fährt.«
»Aber sie haben mindestens sechs Stunden Vorsprung, selbst wenn sie über Nacht angelegt haben.«
»Das mussten sie sogar«, versetzte Sethos ungehalten. »Sei nicht so pessimistisch, Amelia, das passt nicht zu dir. Kein Kapitän würde riskieren, sein Boot nach Einbruch der Dunkelheit über diesen Fluss zu navigieren.«
»Dann müssen sie heute Nacht vor Anker gegangen sein … aber wo?«
»Irgendwo bei Kena«, schaltete Ramses sich ein. »Drei Stunden weiter, bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit. Wir
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