Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Eisengewichten an meinen Händen und Füßen herumzupaddeln. Weinst du etwa? Nicht weinen, verdammt! Weißt du, was sie vorhaben?«
»Ja. Diese grässliche Alte hat es mir beim Dinner erzählt. Aber ich kann nicht …« Er hatte natürlich Recht. Sie konnte ihn nicht befreien, und als Mitgefangene war sie ebenfalls nutzlos.
»Mir auch. Besser gesagt«, meinte Emerson selbstgefällig, »sie hat meine logischen Schlüsse bestätigt. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, als ich erfuhr, wer sie ist. Das zeigt mal wieder, dass man frühere Widersacher nie unterschätzen darf. Und jetzt fang an. Äh-hm …«
»A bientôt, Vater.«
»Ähm … ja, mein Schatz.«
Mehr sagte sie nicht, aus Furcht, ihre Stimme könne sie verraten. Sie orientierte sich an den winzigen Lichtschlitzen zwischen den Läden. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, das stumpfe Ende des Lampenfußes in den Spalt zwischen Laden und Fensterrahmen zu schieben.
Zunächst glaubte sie, nicht genügend Druck ausüben zu können, um den Riegel zu lösen. Als er unvermittelt nachgab, stockte Nefret fast das Herz, denn der Fensterladen krachte mit einem lauten Knall auf. Emerson hörte es auch; er fing an zu brüllen und an die Tür zu trommeln und machte einen Heidenlärm, um die Geräusche zu übertönen, als Nefret aus dem Fenster kletterte. Weit und breit war niemand zu sehen auf dem schmalen Deck. Sie fühlte sich, als hätte ein anderes Wesen von ihr Besitz ergriffen, das sämtliche Emotionen ausblendete. Geistesgegenwärtig schloss und verriegelte sie die Läden, ehe sie über die Reling kletterte und geräuschlos in den Fluss glitt.
Das ungewohnt kühle Wasser nahm ihr den Atem. An den Schiffsrumpf geklammert, sah sie sich um. Der abnehmende Mond war nun eine feinsilberne Sichel, das helle Sternenlicht so typisch für Ägypten. Hinter ihr, nicht weit weg, eine dunkel gestreckte Fläche. Eine Insel, eher klein – aber lang genug, um die Isis aus einer Richtung zu verbergen.
Nackte Füße tappten über das Deck, kaum Meter über ihrem Kopf. Emersons Temperamentsausbruch musste ein paar von ihnen von ihren Posten weggelockt haben.
Mittlerweile war wieder Ruhe eingekehrt.
Nefret atmete tief ein und stieß sich vom Bootsrumpf ab. Als sie wieder auftauchte, drehte sie sich auf den Rücken und paddelte vorsichtig mit den Händen. Inzwischen gewahrte sie die gespenstisch anmutenden Umrisse des Hochplateaus. Die Felsen schienen schrecklich weit entfernt. West- oder Ostufer? Sie ließ sich ein Stück stromabwärts treiben. Die Klippen entpuppten sich als die am Westufer, vielleicht war das Ostufer näher? Etwas Weiches, Übelriechendes stieß mit ihr zusammen. Nefret wehrte es angeekelt ab. Im Nil schwammen immer Tierkadaver. Sie wollte gar nicht wissen, was es war. Sie drehte sich zurück auf den Bauch und schwamm zur Insel.
Es war nur eine Sandbank, kaum zwanzig Meter lang und wenige Meter breit, von Schilfgras und Schlingpflanzen umgeben. Nefret krabbelte aus dem Wasser und sah sich um. Das Ostufer schien genauso weit weg. Die flussnahen Dörfer lagen in Dunkel gehüllt. Die Bewohner konnten es sich nicht leisten, Öl zu verschwenden. Vergebens suchte sie sich zu orientieren. Emerson hätte den einen oder anderen Anhaltspunkt gefunden – er kannte jede Stromschnelle –, aber für Nefret war eine Klippe wie die andere. Links von ihr – nördlich, flussabwärts – schienen einige kleinere Inseln zu liegen.
Eins war jedenfalls sicher: Hier konnte sie nicht bleiben. Sobald man ihr Verschwinden entdeckte, würde man sie suchen, und das Uferschilf war wahrhaftig kein Versteck. Sie setzte sich, kämpfte mit den nassen Stiefelbändern. Sie büßte einen Fingernagel ein, bevor sie sich abstreifen ließen. Hastig zog sie das nasse Hemd und die Hose aus, verschnürte alles zu einem Bündel und schnallte sich dieses mit ihrem Gürtel auf den Rücken. Töricht, vielleicht, aber wenn sie tatsächlich das Ufer erreichen sollte, mochte sie sich den konservativen Dorfbewohnern nicht in nasser Spitzenunterwäsche präsentieren.
Der Himmel über den östlichen Anhöhen lichtete sich. Der Morgen dämmerte. Sie watete durch die Schlingpflanzen, glitt in die Fluten und schwamm zum Ostufer, flussabwärts mit der Strömung.
Sie hatte gewusst, dass der Nil gemeinhin als Mülldeponie galt, aber Wissen war eine Sache, eine ganz andere die, sich mitten in dieser stinkenden Kloake zu befinden. Ertrunkene kamen wieder an die Wasseroberfläche, sobald die
Weitere Kostenlose Bücher