Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
zur Tür und brüllte so laut, dass er den Lärm im Haus übertönte: »Wir gehen aus. Wir sind bald zurück.«
»Dann musst du dich also bei den Damen abmelden, was?«, erkundigte sich Ramses, während sie Daoud über die holprige Straße folgten. Das Dorf war völlig planlos gewachsen, und die Wege schlängelten sich um moderne Häuser und antike Grabstätten. »Wie ich von Daoud erfahren habe, spielst du mit dem Gedanken, dir eine dritte Ehefrau zu nehmen. Denk an meine Worte: Drei Frauen sind sechsmal so anstrengend wie zwei.«
Grinsend kratzte Selim sich den Bart. »Ich sage ihnen, was ich möchte, und tue, was mir gefällt.«
»Sicher. Und die dritte Frau?«
»Sie wären bestimmt nicht einverstanden.«
Er bemerkte Ramses’ betont kontrollierte Miene und lachte ausgelassen. »Meinst du, ich stehe unter … unter ihrem Pantoffel?«
Ramses fiel in sein Lachen ein. »Dein Englisch wird von Mal zu Mal besser, Selim. Aber sag mal, Daoud lässt die Schultern hängen, als sei er beleidigt. Was ist denn los?«
»Vielleicht siehst du besser selbst«, räumte Selim ein.
Ihr Ziel war der neue Friedhof nahe dem Dorf. Wie die antiken Grabstätten lag auch er in der Wüste und nicht in dem bewässerten Grünstreifen am Flussufer. Es war die heißeste Tageszeit; der Boden glühte in der Sonne. Die meisten Grüfte waren schmal und schlicht, lediglich mit einfachen Pfeilern oder niedrigen Grabsteinen geschmückt. Abdullahs Grab war das beeindruckendste Monument. David hatte es in der klassischen Form gestaltet – mit Kuppeldach –, gleichwohl war es ungewöhnlich anmutig und augenfällig. Schon von weitem gewahrte Ramses, dass es anders aussah als sonst. Seine Verwunderung wuchs, sobald sie näher kamen. An einem über dem geschwungenen Eingangsbogen befestigten Seil hing ein seltsames Sammelsurium – vermutlich Opfergaben: Schnüre aus Glasperlen, bestickte Tücher, ein Büschel Haar. Unter der Kuppel, neben dem eigentlichen Grab, saß eine reglose Gestalt, das turbanbedeckte Haupt gesenkt, die Hände gefaltet.
»Großer Gott«, entfuhr es Ramses. »Das ist ja Hassan. Was zum Teufel macht er denn da?«
»Er ist der Diener des Scheichs«, führte Daoud aus.
»Von welchem Scheich? Doch nicht etwa Abdullah?«
Hassan erhob sich, schritt zu ihnen und duckte den Kopf unter dem Strick mit den bunt zusammengewürfelten Gaben. Ramses gewahrte, dass der weiße Marmorboden mit Blumen und Palmwedeln bedeckt war, einige frisch und farbenprächtig, andere verdorrt. Er hielt Hassan nicht unbedingt für einen bekennenden Asketen. Er hatte eine Wasserpfeife geraucht, Teller mit Brot- und Speiseresten standen um ihn verteilt.
»Was soll das, Hassan?«, wollte Ramses wissen. »Keiner hat Abdullah mehr geschätzt und bewundert als ich, aber er war kein heiliger Mann.«
»Schön, dass du gekommen bist, Bruder der Dämonen«, erwiderte Hassan. Er grinste entrückt. Ramses fragte sich, ob in der Pfeife noch etwas anderes außer Tabak gewesen sein könnte.
»Er ist ein Scheich, ganz bestimmt«, fuhr Hassan fort. »Hat er nicht der Sitt Hakim das Leben gerettet, unter Einsatz seines eigenen? Ist er ihr nicht im Traum erschienen, wie ein heiliger Mann, und hat sie gebeten, ihm ein würdiges Grabmal zu bauen?«
Ramses schaute zu Daoud, der seinen forschenden Blick unerschütterlich grinsend erwiderte. Wie ihr hünenhafter Freund von den Träumen seiner Mutter erfahren hatte, war ihm schleierhaft; bis vor kurzem hatte sie diese nicht einmal dem engsten Familienkreis anvertraut. Dass sie von dem Wahrheitsgehalt solcher Träume überzeugt war, bewies ihren leichten Hang zum Übernatürlichen. Die Skepsis der anderen berührte sie nicht im Geringsten, und selbst Ramses musste zugeben, dass die Visionen seltsam plausibel und realitätsnah wirkten. Einer der Bediensteten musste davon etwas mitbekommen und sein Wissen umgehend weitergegeben haben. Und sobald Daoud informiert war, wusste es das gesamte Westufer. »Aber ein heiliger Mann muss Wunder vollbringen«, wandte er ein.
»Das hat er getan«, versetzte Hassan. »Als dieser missratene Junge, der gegen die Gesetze des Propheten verstoßen hatte, in unmittelbarer Nähe von Scheich Abdullahs Grab erneut morden wollte, hat er da den Sünder nicht ausgemerzt? Für mich hat er noch ganz andere Wunder vollbracht. Mein Herz war voller Schuld und Bedrängnis. Seitdem ich sein Diener bin, geht es mir wieder gut, und inzwischen kommen viele, um Bittgesuche an ihn zu richten.« Er zeigte auf die
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