Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
armseligen, kleinen Gaben. »Er hat bereits den Husten von Mohammed Ibrahim und Alis Ziege kuriert. Kommt, betet mit mir. Bittet ihn um seinen Segen.«
Es war nicht etwa Haschisch, das ihn erleuchtete, sondern religiöser Eifer – und warum soll ausgerechnet ich ihm diese harmlose Bitte abschlagen?, dachte Ramses.
Er kannte die Gebete seit seiner Kindheit. Er zog die Schuhe aus und folgte dem vorgeschriebenen Pfad um die Gruft. Daouds sonore Bassstimme vermischte sich mit seiner. »Friede sei mit den Aposteln, Ehre sei Gott, dem Herrn über alle Völker.«
Sie traten den Rückweg zu Selims Haus an und ließen Hassan im Schneidersitz unter der Kuppel zurück. Daoud war hoch zufrieden mit seiner Enthüllung. »Mein Onkel Abdullah wird sich freuen, dass er ein Scheich ist«, bemerkte er. »Wenn er das nächste Mal mit der Sitt Hakim spricht, wird er ihr das bestimmt erzählen.«
»Dann werde ich dich selbstverständlich umgehend informieren«, erwiderte Ramses trocken. Er vermochte sich beim besten Willen nicht vorzustellen, wie seine Mutter auf diese Neuigkeit reagieren würde.
Selim hatte am Gebet teilgenommen, aber nicht an ihrer Unterhaltung. Ramses war sich nicht sicher, wie strenggläubig er war; er folgte den fünf Pfeilern des Islam, beachtete das Fasten im Ramadan und gab großzügig den Armen, gleichwohl war seine Lebensweise von den Briten beeinflusst. Er verfuhr nachsichtiger mit seinen jungen Ehefrauen als die meisten Einheimischen, und er hatte etliche englische Sitten übernommen.
Darunter auch den Nachmittagstee, der bei ihrer Rückkehr gereicht wurde. Ramses hatte auf ein vertrauliches Gespräch mit Selim gehofft, aber das war unmöglich bei den kreischenden, herumtollenden Kindern und dem Geplapper der Frauen. Er nahm eine Tasse Tee von Selims jüngster Frau und lächelte Nefret zu, die Selims Baby auf dem Schoß hatte. Möchte sie noch ein Kind?, überlegte er. Sie hatten nicht darüber gesprochen. Was ihn betraf, so waren zwei genug. Er wollte nicht, dass Nefret noch einmal solche Schmerzen durchlitt. Als Vater trug man eine Riesenverantwortung. Zigmal am Tag fragte er sich, ob er auch alles richtig machte.
Tee schwappte auf den Boden, trotzdem ließ er seine Tasse nicht los, als Davy auf seinen Schoß kletterte. Er schmiegte den warmen kleinen Körper an sich. Vielleicht machte er es wenigstens teilweise richtig.
Kadija beobachtete sie hinter ihrem Gesichtsschleier. Sie war die Einzige, die in seiner Gegenwart verschleiert blieb. Seine Mutter hatte ihr des Öfteren zugeredet, dass sie seit Davids Heirat mit Lia eine große Familie seien, doch Kadija kam aus einem nubischen Stamm, in dem die alten Traditionen Bestand hatten. Immerhin hatte sie sich schließlich bereit erklärt, ihn mit Vornamen anzureden.
»Wie hast du dir die Hand verletzt, Ramses?«, erkundigte sie sich. »Sieht aus wie die Spuren von Tierkrallen.«
Er spähte auf seinen hochgerollten Ärmel. Die Kratzer waren tiefer, als er gemeint hatte, hässlich ausgezackt. »Ein kleines Souvenir von einem Mann namens François«, antwortete er. »Er hat einige animalische Attribute, wie seine scharfen Nägel, die er rücksichtslos einsetzt. Es ist nichts.«
Er versuchte, die Manschette hinunterzuziehen, doch Davy fasste seine Hand, presste feuchte Küsse auf die Schrammen und murmelte tröstliche Worte (vielleicht auch heilungsfördernde Beschwörungen).
»Wieso hast du mir nichts gesagt?« Nefret setzte das Baby zu Boden.
»Es ist nichts«, wiederholte Ramses.
Kadija erhob sich und ging ins Haus.
»Bloß nicht die berühmt-berüchtigte grüne Salbe!«, protestierte Ramses. »Die hinterlässt bleibende Flecken auf den Sachen. Danke, Davy, du hast gute Arbeit geleistet. Es geht mir schon viel besser.«
»Ich habe es nie geschafft, die wirksamen Bestandteile zu isolieren, aber die Salbe hat ganz bestimmt antiseptische und entzündungshemmende Eigenschaften«, räumte Nefret ein. »Fingernägel sind schmutzig, und ich bezweifle, dass unser François eine Maniküre besucht. Diese Schrammen hätten sofort desinfiziert werden müssen.«
»Was ist das?«, erkundigte sich Selim. »Wer ist dieser Mann? Ein neuer Widersacher?«
»Nichts dergleichen«, erwiderte Ramses. Kadija kehrte mit einem kleinen Tiegel zurück, und Ramses ließ sich widerstrebend die Salbe auftragen, während er Selim von dem Zusammentreffen berichtete. Selims aufmerksame Miene verzog sich verdrossen. Er hatte etliche ihrer haarsträubenderen Abenteuer miterlebt
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