Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
anderen Thronfolger, für den es sich zu kämpfen lohnte. Der alte Hohepriester des Aminre starb ebenfalls, nicht durch Gewaltanwendung – man erhebt die Hand nicht gegen die von den Gottheiten Auserwählten –, sondern nach einem Jahr Kerkerhaft. Er war ein hochbetagter Mann.«
»Und der weiße Mann – der rothaarige Engländer, der Tareks Bruder unterstützt hatte?«
»Er war höchstwahrscheinlich ein Anhänger von Seth«, erklärte Harsetef todernst. »Seine Haarfarbe war ein Symbol jenes grausamen Gottes, und kämpfte er nicht gegen seine Schwester, die Priesterin der göttlichen Isis?«
Das sind die Auswüchse der Religion, hätte sein Vater jetzt vermutlich losgewettert. Die alten Mythen von dem Mord an dem unfehlbaren Gott Osiris durch seinen neidischen Bruder Seth waren trefflich verquickt – dank politischen Kalküls. Isis, Schwester von Seth und Osiris und zudem dessen Gemahlin, hatte Letzteren so lange ins Leben zurückgeholt, bis sie einen Sohn von ihm erwartete. Dass Nefret Reggies Cousine gewesen war und nicht seine Schwester, schien in diesem Zusammenhang eher unwesentlich. Ramses glaubte, die feine Handschrift des alten Murtek zu erkennen, seines Zeichens Hohepriester des Osiris und einer der gewieftesten Politiker, die er je kennen gelernt hatte.
»Dann ist der Mann von Seth also – äh – tot?«, wollte er wissen.
»Gerichtet durch die Hand des Osiris.«
Also durch Murtek. Ramses fragte sich, wie er die Exekution ausgeführt hatte.
Murtek war eines natürlichen Todes gestorben. Der gerissene alte Mann hatte die machtpolitischen Kräfte im Gleichgewicht gehalten, indem er die Priester des Amun gegen die des Osiris ausspielte und Tareks ungemein ehrgeizige Reformpläne kontrollierte. Mit seinem Tod hatten die Probleme begonnen. Sein Nachfolger, ein willfähriger älterer Herr, hatte den Ambitionen der Priesterschaft des Amun nachgegeben. Und Tarek hatte zwecks Umsetzung seiner Reformen den fatalen Fehler gemacht, eine Steuer über die reichsten Bürger und die Tempel zu verhängen.
Das Szenario war ihm deprimierend vertraut. Es gab kein stehendes Heer; wie im Mittelalter unterhielt jeder Adlige seine eigene Garde, die im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen für ihren Herrn und Gebieter kämpfte.
Die Tempelwachen schlugen sich auf die Seite der Priester. Tarek hatte lediglich seine eigene loyale Leibwache, einmal abgesehen von einigen getreuen Anhängern. Und statt in einem sinnlosen Kampf zu fallen, hatte Tarek sich mit seinen Leuten in den Norden zurückgezogen. Seitdem schlossen sich ihm weitere Sympathisanten an, aber es waren immer noch wenige.
»Dem Unterdrücker geht es nicht viel anders«, sagte Harsetef mit einem dünnlippigen Grinsen. »Bei der Verteidigung des Passes hat er etliche Männer verloren. Wir halten die Berge und verteidigen sie.«
Er erhob sich. »Troll dich, mein Junge«, sagte er zu Khat.
Ramses dankte dem Heranwachsenden noch einmal und schärfte ihm ein, vorsichtig zu sein. Nachdem er fort war, meinte Harsetef zögernd: »Da ist noch eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich wollte es vor dem Jungen nicht ansprechen.«
»Was denn?« Ramses schulterte den Rucksack. »Man hat uns gesagt«, meinte sein Begleiter gedehnt, »dass der Vater der Flüche sich mit dem Usurpator am Fenster der Erscheinung gezeigt hat. Dass ihr, du und die Sitt Hakim, dabeistandet. Ihr sollt zu den Menschen geredet und sie zum Gehorsam gegenüber dem Unterdrü cker ermahnt haben.«
»Das ist richtig«, erwiderte Ramses. Harsetef zog geräuschvoll den Atem ein, worauf der junge Emerson ausführte: »Wir haben die Leute gebeten, in ihre Hütten zurückzugehen. Sonst hätte es womöglich noch ein Blutbad gegeben. Du glaubst doch nicht, dass wir Tarek hintergehen, oder? Wir planen und warten auf den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln.«
»Ich wusste es.« Harsetef atmete erleichtert auf.
Zum Teufel mit der Politik, sinnierte Ramses ärgerlich. Die Menschen glauben , an ihre Gottheiten und an uns. Im Grunde genommen war uns das immer bewusst, aber wir sind viel zu stark von rationalen Überlegungen geprägt, als dass wir nachvollziehen könnten, wie wichtig dieser Glaube für die Leute hier ist. Der Glaube kann Berge versetzen? Berge wohl kaum, aber immerhin hat er Könige gestürzt und Gesellschaften verändert.
Die Lage war kritischer, als von ihm eingeschätzt; er konnte nur hoffen, dass sie sich durch sein Verschwinden nicht noch zugespitzt hatte. Womöglich pochte Zekare
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