Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
ich fest, dass ihm der Schweiß aus sämtlichen Poren troff. Ich hatte wahrlich kein Recht, den harmlosen armen Wicht zu quälen.
Einer der Priester erwartete mich unter den schattigen Arkaden auf der anderen Seite des Säulenhofs. Das rasierte Haupt und die makellos weiße Robe bezeugten seinen Status; unter Verneigungen komplimentierte er mich in die Kammer, wo das Göttinnenantlitz von seinem Sockel herabstrahlte. Er nahm sich einen der Leuchter, die auf schulterhohen Borden standen, und bedeutete mir, ihm durch einen der verhängten Durchgänge zu folgen.
Der Leuchter war einfach, aber anmutig geformt und aus durchschimmerndem Alabaster. Er spendete kaum Licht; der Felsengang war in fast völlige Dunkelheit getaucht. Irgendwann bog er nach rechts und nach ein paar Metern abermals nach rechts. Wir steuerten praktisch in die Ausgangsrichtung zurück. Dann knickte der Tunnel nach links ab und es wurde kaum merklich heller – sanfter Lichtschein schimmerte durch einen Leinenvorhang. Mein Begleiter schob diesen beiseite und winkte mich hindurch.
Mehrere Lampen erhellten eine kleine Kammer, deren Wände mit Tapisserien bedeckt waren. Wie viele Durchlässe mochten sich dahinter verbergen?, überlegte ich. In dem Gewirr von Gängen verlor man leicht die Orientierung. Ich hoffte inständig, dass Ramses von der Idee Abstand genommen hatte, Nefret durch den Tempel zu erreichen. Falls er diese Route gewählt hatte, irrte er vermutlich irgendwo herum oder, kaum auszudenken, man hatte ihn bereits aufgegriffen. Dieser Raum gehörte bestimmt nicht zu den Gemächern der Hohepriesterin; ein paar Schemel und ein niedriges Tischchen waren das einzige Mobiliar.
Der Priester hatte sich zurückgezogen. Ich war allein.
Umso besser, redete ich mir ein und straffte die Schultern. Dann kann ich mich wenigstens ein bisschen umsehen. Gesagt, getan. Ich glitt die Wände entlang, spähte hinter die diversen Vorhänge und entdeckte weitere Durchlässe – allesamt schwarz wie die Nacht. Als ich mir eben eine der Lampen nehmen und in die nächstgelegene Öffnung leuchten wollte, wurde auf der gegenüberliegenden Seite einer der Wandbehänge beiseite geschoben. Zwei Zofen, von Kopf bis Fuß in weiße Schleier gehüllt, schlüpften in den Raum und positionierten sich rechts und links des Durchgangs. Hinter ihnen tauchte Nefret auf.
Es fällt mir schwer, die Gefühle in Worte zu kleiden, die mich bei ihrem Anblick durchfluteten. Sobald sie sich in meine Arme stürzte und ich sie fest umschlungen hielt, begriff ich schlagartig, in welch qualvoller Sorge um sie ich gewesen war. Sie klammerte sich an mich und wiederholte immer wieder, wie sehr sie sich freue und dass wir ihr wahnsinnig fehlten. Natürlich fasste ich mich rasch wieder und wies sie auf den Ernst der Lage hin.
»Wir dürfen keine Zeit verschwenden«, bedrängte ich sie. »Haben sie dir irgendetwas angetan?«
»Nein.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Augen und lächelte matt. Sie trug die Robe der Hohepriesterin, hatte aber den Gesichtsschleier zurückgestreift. »Der Professor – Ramses und Selim und Daoud – sind sie wohlauf?«
»Ja, ja, mach dir keine Sorgen um uns. Weißt du überhaupt, weshalb man uns hergeholt hat? Tarek wurde von einem Usurpator entmachtet –«
»Ich weiß. Man erwartet von mir, dass ich die Göttin in ihr Heiligtum zurückhole.«
»Um die Herrschaft des Despoten zu stützen«, versetzte ich mit einem Zynismus, der Emersons in nichts nachstand. »Der Thron scheint mir doch ein bisschen zu wackeln. Tarek hält sich im Norden des Heiligen Berges versteckt, aber letztlich vermag keiner den anderen zu überwältigen. Der neue Monarch verlangt, dass wir ihn öffentlich und mit Nachdruck unterstützen, aber genau das könnte das Blatt wenden.«
Eine der Zofen wandte ihr verschleiertes Gesicht zu dem Durchlass, durch den ich gekommen war. Davor hüstelte jemand. Ich sagte hastig: »Natürlich handeln wir nicht überstürzt, obwohl es vielleicht besser wäre, wenn wir aus der Stadt fliehen und uns zu Tarek durchschlagen würden. Nein, unterbrich mich nicht, hör mir zu. Die Situation ist bei weitem nicht so aussichtslos, wie sie scheint –«
»Das ist sie bei dir nie.« Nefrets Mundwinkel zuckten.
Zuversichtlich lächelnd fuhr ich fort: »Uns schweben mehrere Lösungen vor. Ich vermute mal, dass Daria bei dir ist, hm? Wie hält sie sich denn so?«
»Nicht mehr so gut wie am Anfang«, meinte Nefret zögernd. »Die anderen behandeln sie wie eine
Weitere Kostenlose Bücher