Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
nicht gar Glaubensbrüder, weshalb er wohl keine weitere Veranlassung sah, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Die Hohepriesterin erinnert sich von Mal zu Mal mehr. Jeden Tag reden wir vertraulich miteinander, nur wir beide. Und wenn die göttliche Isis zurückkehrt, wird sie ihren rechtmäßigen Platz als oberste Gottheit des Heiligen Berges einnehmen.«
Und ihr Hohepriester Amase wird sich über seinen Rivalen, den Priester des Aminre, erheben. Emerson hätte gewiss kurz und bündig erklärt, dass Religion häufig zur Verschleierung der Macht diene.
Merasen schlenderte mit gespitzten Ohren von Tisch zu Tisch, bemüht, das eine oder andere Interessante aufzuschnappen. Als ranghöchster Gast war er es auch, der die Zusammenkunft beendete, obschon einige der Anwesenden sichtlich widerstrebend aufbrachen.
»Mein lieber Emerson, du warst mir keine große Hilfe«, entrüstete ich mich, während die Dienerschaft die Essensreste abräumte und vergossenen Wein aufwischte. »Du solltest den Hohepriester aushorchen, aber keine theologische Debatte mit ihm anfangen.«
»Mir wurde rasch klar«, meinte Emerson ausweichend, »dass sich der Kerl niemals gegen Zekare stellen würde.«
»Du bist ja ein echter Schnellmerker.«
»Spar dir den Sarkasmus, Peabody. Wusstest du, dass Tarek die Tempel hoch besteuerte, vor allem den von Amun, und dass er etliche Priester dazu verdonnerte, sich ihren Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit zu verdienen? Mein Gesprächspartner glaubte seine glühenden Gebete erhört, als Zekare den Thron an sich riss und Amun zu noch größerer Macht verhalf.«
»Das ist ja alles höchst brisant, aber ich sehe nicht, wie uns das weiterhilft.«
»Hmpf«, schnaubte Emerson. »Was ist mit dir? Ganz ohne Zweifel hast du den Priester der Isis für unsere Sache gewonnen.«
»Auf jeden Fall hab ich mich tapfer geschlagen. Der Alte ist ein naiver Tropf; er meinte, sobald die Göttin zurückgekehrt sei und Nefret eine Nachfolgerin bestimmt habe, könne sie wieder zu uns.«
»Er hat gelogen«, knurrte Emerson.
»Das glaub ich nicht. Jemand anders hat ihn angelogen. Ich erfuhr etwas viel Bedeutsameres. Merkwürdig, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin.«
Emerson tat mir nicht den Gefallen nachzuhaken. Stattdessen wandte er sich an Selim. »Hast du was Interessantes zu berichten, Selim?«
»Der Kommandeur der Palastwache bewundert dich sehr, Emerson.«
»Kein Wunder nach den Ammenmärchen, die du und Daoud ihm aufgetischt haben«, sagte Emerson, der offenbar alles im Blick gehabt hatte.
Selim grinste. »Es waren keine Lügen, Emerson. Zudem ist Daoud ein Meister der Andeutungen.«
Daoud lächelte stillvergnügt.
»Schätze«, fuhr Selim fort, »dass du den Kommandeur für dich gewinnen könntest, du musst ihn nur fragen.«
»Fragen allein genügt nicht, Selim, ich müsste irgendwas machen, das … Hmmm. Was hältst du davon, Peabody, wenn –«
»Nein, Emerson. Ich verbiete es dir schlicht.«
Emersons Augen wurden schmal.
»Woher weißt du, worauf ich hinauswollte?«
»Ich kenne dich . Du spekulierst auf einen Zweikampf mit dem König und natürlich auf deinen Sieg. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, Emerson, außerdem ist er sicher ein besserer Schwertkämpfer als du.«
Ich war hundemüde, sonst hätte ich sicher taktvoller reagiert. Die breiten Schultern gestrafft, funkelte Emerson mich an. »Wenn sich die Lage zuspitzt, Peabody, tue ich, was ich für richtig halte. Und jetzt komm ins Bett, du hast zu viel getrunken.«
»Es liegt nicht am Alkohol«, murmelte ich. Ich befühlte meine Stirn. »Mir war schon den ganzen Abend so komisch. Schwindlig, fiebrig …«
Ich taumelte nach vorn und Emerson fing mich geistesgegenwärtig auf. Leicht beschämt sah ich seine entsetzte Miene, aber schließlich war er selbst schuld, wenn er mir nicht zuhörte.
Aus Manuskript H
Ramses glaubte nicht an prophetische Eingebungen. Gottlob war Harsetef da anders.
»Wenn die Göttin zu dir geredet hat, musst du gehorchen«, stellte er fest, nachdem Ramses ihm sein Vorhaben erläutert hatte. »Es ist ein Plan, der ihrer würdig ist, ein scharfsichtiger Plan.«
»Finde ich auch«, meinte Ramses zurückhaltend. »Allerdings nicht ungefährlich. Aber mit ihrer Hilfe wirst du es schaffen.«
Inschallah, dachte Ramses im Stillen. So Gott will.
Er konnte sich nicht erklären, wieso er mit einem Mal einen klaren Entschluss gefasst hatte. Ihr ursprünglicher Plan hatte nicht alle Fakten berücksichtigt. Vor allem
Weitere Kostenlose Bücher