Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Kletterer hätte sich an diese gigantischen Felsen herangewagt. Für den einzig passierbaren Weg durch diese schroffe Berglandschaft benötigten wir weitere zwei Stunden: Es war ein beschwerlicher Ritt um die südwestliche Grenze dieser Gesteinsmassen. Der Durchlass war kaum breit genug für ein Kamel, und als mein Reittier hindurchritt, schabte das Sänftengestell bedrohlich entlang der felsigen Kluft. Dann sah ich lange Zeit nichts mehr, da uns gespenstische Dunkelheit einhüllte. Der Pfad wand und schlängelte sich scheinbar unendlich. Hoch über uns ein winziger Spalt, durch den funkelndes Sternenlicht einfiel. Fackeln flammten am Rande der Karawane auf; die Kamele liefen schneller. Sie spürten instinktiv, dass sie bald am Ziel waren, wo sie Futter und Wasser bekämen. Plötzlich vernahm ich ein schauriges Grollen, als knurrte irgendwo eine riesenhafte Bestie. Ich wusste, was es war, verstand aber durchaus, warum Daria erschrocken meine Hand fasste und leise aufschrie.
»Wo sind wir hier? Was ist passiert?«
»Hab keine Angst.« Nefrets Stimme klang grässlich verzerrt durch das Echo. »Der Eingang ist geheim und gut bewacht, aber wir sind mit Freunden gekommen.«
Das Geräusch stammte von den gewaltigen Felsbrocken, die den inneren Eingang versperrten und für uns beiseite gerollt worden waren. Wir ritten auf einen Platz, der mir wohlvertraut war – zum Himmel hin offen diente er als Weide und Lagerstätte. Er war hell erleuchtet und voller Menschen. Daria umklammerte weiterhin meine Hand, worauf Nefret ungehalten fauchte: »Hier ist wirklich nichts, wovor du Angst haben müsstest. Komm, Tante Amelia, lass uns aus diesem schrecklichen Ding aussteigen. Grundgütiger, ich bin steif wie ein Brett.«
»Halt dich fest, mein Liebes. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses vermaledeite Kamel gleich –«
Ich täuschte mich nicht. Steif wie Nefret purzelte ich aus der unbequemen Sänfte geradewegs in Emersons Arme. Er drückte mich kurz an sich und ließ mich dann behutsam zu Boden. Ramses half Nefret hinaus. Daria überließ er Emerson.
»Schön, wieder hier zu sein, was Peabody?« Mein Göttergatte grinste breit.
»Hmmmm.« Ich nickte schwach. »Findest du nicht, dass du mit deinem Urteil eine Spur zu voreilig bist? Seit unserem letzten Aufenthalt kann sich vieles geändert haben – und womöglich nicht zum Positiven.«
»Eins hat sich jedenfalls nicht geändert«, versetzte Ramses. Er deutete auf mehrere Tragesessel. Die Träger standen daneben: kleine, dunkelhäutige, muskulöse Männer, nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Tief verneigt warteten sie auf weitere Befehle, genau wie Lasttiere – die sie letztlich auch waren. Ramses fuhr fort: »Die Rekkit sind immer noch versklavt.«
Man brachte uns zu einem stämmigen Herrn, der die elegant plissierte Robe und die kostbaren Insignien eines hohen Beamten trug. Nachdem er sich kurz mit Har ausgetauscht hatte, verbeugte sich Letztgenannter vor uns und verschwand. Ich hatte den leisen Verdacht, dass er froh war, uns endlich loszuwerden.
Der Würdenträger strebte lächelnd zu uns und begann nach höflicher Verbeugung eine Art Begrüßungsrede. Er sprach so ungemein schnell, dass ich Nefret um eine Übersetzung bitten musste.
»Er sagte: ›Willkommen in der Heiligen Stadt, oh ihr Einzigartigen. Der König und euer getreues Volk erwarten euch.‹«
»Wie nett«, sagte ich mit einem huldvollen Nicken zu besagtem Gentleman. »Sagt ihm, wir –«
»Frag ihn, was das soll, dass er diese armen Teufel hier anschleppt«, unterbrach mich Emerson und deutete stirnrunzelnd auf die Sänftenträger. »Ich lass mich doch nicht von Sklaven durch die Gegend tragen. Und außerdem –«
»Vater, darf ich dich kurz unterbrechen?« Ramses wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr hastig fort: »Ich schlage vor, wir vertagen Fragen und Kritik, bis wir bei Tarek sind. Ich hab das Gefühl, die Situation ist komplexer, als sie scheint.«
»Hmpf. Trotzdem lass ich mich nicht in einem solchen Ding herumschaukeln. Schon aus Prinzip nicht«, setzte sein Vater lakonisch hinzu.
Irgendwie verwunderte es mich schon, dass Tarek nicht persönlich gekommen war, um uns zu begrüßen. Schließlich brachen wir auf, wir drei Frauen und der Beamte in Tragesesseln, eskortiert von den Männern. Wir wurden durch eng gewundene, in das Gestein getriebene Gänge getragen. Der Heilige Berg war voller solcher Tunnel, die unter, in und durch die Felsen führten, über die
Weitere Kostenlose Bücher