Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
schon seit Tagen keinerlei Zeichen mehr entdeckt«, sagte Ramses. »Keine Knochen, keine Fußspuren, nicht einmal ein Haufen Kameldung. Würde mich nicht überraschen, wenn diese Patrouillen solche Hinweise vernichten müssten. Wahrscheinlich haben sie ihre eigenen Anhaltspunkte.«
Sobald sich der Sandnebel gelichtet hatte, zog Emerson seinen Kompass zu Rate, als er jedoch mit der Information an Har herantrat, dass wir vom Kurs abgekommen seien, wurde er höflich, aber bestimmt abgeschmettert. »Das weiß ich, Vater der Flüche. Morgen sind wir wieder auf dem richtigen Weg.«
Wie üblich separierten Har und seine Leute sich und kauerten sich in einiger Entfernung von uns auf ihre Decken. Das ärgerte den geselligen Daoud, der sich gern mit ihnen angefreundet hätte. »Das sind merkwürdige Leute«, meinte er.
»Sie sind kein bisschen anders als wir, Daoud«, erwiderte Ramses. »Sie sprechen eine für uns fremde Sprache und haben andere Sitten und Gebräuche, trotzdem sind es gute Menschen.«
»Sie beten nicht«, murrte Daoud, der die Gebetszeiten, wann immer möglich, exakt einhielt.
»Sie beten zu ihren Gottheiten«, erklärte Nefret.
»Das sind keine Gottheiten, sondern Götzen«, widersprach Daoud.
»Das mag zweifellos stimmen, Daoud«, lenkte Emerson ein. »Aber sag das ja nicht in ihrem Beisein.«
»Das wäre auch unhöflich«, erwiderte Daoud. »Wenn Allah ihnen den richtigen Weg aufzeigen will, wird er das auf seine Weise tun.«
»Die Welt wäre um einiges besser und friedlicher, wenn alle so dächten wie du«, sagte ich und tätschelte seinen Arm. »Was haltet ihr von ein bisschen Sprachunterricht?«
Auf mein Betreiben hin übten wir jeden Abend und ich unterhielt mich während der lange Ritte mit Nefret auf Meroitisch. Genau genommen war die Sprache der Heiligen Stadt ein Gemisch aus Ägyptisch und Meroitisch. Früher einmal Nefrets Muttersprache, verblüffte es mich, wie schnell sie diese wieder fließend beherrschte. Der sprachbegabte Ramses stand ihr in nichts nach. Anders als sein Vater, der sich allerdings, wie bereits erwähnt, auf die eine oder andere Weise verständlich macht.
Tags darauf durchquerten wir ein Gebiet mit hohen Sanddünen, eine Strapaze für alle Beteiligten. Unbequem in die Sänfte gequetscht, war ich eingedöst, als mich ein Begeisterungsruf Emersons weckte. Ich steckte den Kopf durch die Vorhänge.
»Das musst du dir ansehen, Peabody«, brüllte er. »Warte, ich helf dir runter.«
Wir näherten uns dem Gipfel einer der höchsten Dünen. Die Sonne sank bereits. Zunächst sah ich nichts als unsägliche Sandmassen, doch noch während wir weiterkraxelten, erhob sich vor mir wie aus dem Nichts eine phantastische Vision: Türme und Mauern, schwarz vor dem purpurnen Sonnenuntergang, vergleichbar der Befestigungsanlage einer mittelalterlichen Burg.
»Da ist er«, murmelte der Professor. »Der Heilige Berg.«
Wir verharrten in fasziniertem Schweigen, bis Ramses und Selim zu uns aufschlossen. Der Anblick verströmte den Zauber des Geheimnisvollen. Daoud, der hinter den anderen auftauchte, bestätigte meinen Eindruck. »Das ist bestimmt das Schloss des Königs der wilden Götter. Wollen wir dorthin?«
»Ja«, sagte Emerson.
Obschon die Berge so nah schienen, waren wir noch einen Tagesritt entfernt, und mich beschlich allmählich der Verdacht, dass Har es nicht eilig hatte, dorthin zu kommen. Am Fuß der letzten hohen Sandverwehung schlug er das Lager auf und wir durften alle eine ganze Nacht lang ausschlafen. In Anbetracht der baldigen Heimkehr erfreuten sich seine Männer besserer Stimmung, sie lachten und sangen an jenem Abend an ihrem Lagerfeuer. Unsere Gruppe war nicht so fröhlich, trotz Daouds Bemühungen, uns aufzuheitern. Im Vertrauen auf Allah und auf uns hatte er beschlossen, dass ihm böse Geister und Dämonen nichts anhaben konnten. Nefret war still und nachdenklich, Daria immer in ihrer Nähe. Ramses ging beiden Mädchen aus dem Weg. Er schien sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen, stritt dies aber vehement ab, als ich ihn darauf ansprach.
Am nächsten Tag passierten wir die Ausläufer des Bergmassivs, das sich vor uns auftürmte. Am frühen Nachmittag erspähten wir das erste Grün – ein Fleckchen Gras und einen einsamen Baum einer mir unbekannten Gattung. Wir hatten die Ausläufer des Massivs erreicht. Es war ein eindrucksvoller Anblick, über fünfhundert Meter hoch und eingefriedet von herabgestürzten Gesteinsblöcken. Nur ein unerschrockener
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