Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
jüngerer Mann. Ich erkannte ihn auf Anhieb wieder. Es war Merasen. Der andere – der König – war nicht Tarek.
Diese Entdeckung traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, obwohl mir eine innere Stimme sagte, dass ich damit eigentlich hätte rechnen müssen. Tarek hätte uns als einer der Ersten begrüßt, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Gewiss hatte er den Thron durch Tod oder Entmachtung verloren und Merasen hatte uns vorsätzlich hinters Licht geführt. Selbst wenn Tarek nach Merasens Abreise aus der Heiligen Stadt verstorben war, so hatte ich dennoch keine harmlose Erklärung für den Diebstahl der Karte und den Tod des armen Ali.
Als meinen Männern und mir die traurige Wahrheit schwante, fürchtete ich kurz, dass Ramses tobsüchtig werden würde. Ramses hatte von Anfang an Vorbehalte gegen Merasen gehegt, doch seine wutverzerrte Miene zeugte jetzt von ganz anderen Emotionen. Ich packte ihn kurzentschlossen am Arm und versuchte ihn zu beruhigen: »Ramses, nein! Halt dich zurück!«
»Er hat Nefret entführt«, zischte mein Sohn. »Deshalb hat er uns hergebracht, er wollte –«
»Das mag ja sein, aber einen Erbprinzen anzugreifen ist in unserer misslichen Lage keine Lösung.«
»Ganz recht«, knirschte Emerson. »Ruhig Blut, mein Junge. Lass uns erst mal hören, was sie dazu zu sagen haben. Du übernimmst das Reden und übersetzt für uns, ist das klar?«
Ramses senkte den Kopf. Er kämpfte um seine Beherrschung. Ich war ungemein erleichtert, dass Emerson sich mit stoischer Gelassenheit den Gegebenheiten stellte.
Für gewöhnlich brüllt er nämlich lieber herum und piesackt seine Widersacher, aber jetzt war er die Ruhe selbst.
Merasen trat vor; seine Miene nicht die Spur schuldbewusst, griente er uns an. »Ich werde für meinen Vater, den König, in eurer Sprache reden, damit ihr alles versteht. Er heißt euch willkommen und bittet euch, Platz zu nehmen. Er ist der Horus Mankhabale, Sohn des Re Zekare, Herrscher über die beiden Reiche –«
»Ja, ja, das wissen wir.« Emerson winkte ab.
Der König nickte salbungsvoll. Er war ein gutaussehender Mann, mit kantigem Gesicht und der trainierten Statur eines Soldaten. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig. »Was ist mit Tarek passiert?«, wollte ich wissen. »Sind er und sein Sohn an dieser seltsamen Krankheit gestorben?«
Merasen lachte, worauf Ramses, der ihn wie eine sprungbereite Raubkatze belauerte, sagte: »Diese Krankheit war eine Erfindung von Euch, nicht wahr, Merasen?
Um uns herzulocken. Ist Tarek womöglich tot, weil er zufällig einem Mord zum Opfer fiel?«
Merasen übersetzte das Ganze für seinen Vater. »Er ist nicht tot«, lautete die majestätische Antwort, die von einem verächtlichen Schnauben begleitet wurde.
»Er ist geflüchtet, dieser Feigling, mit ein paar loyalen Anhängern. Eines Tages werde ich diese Bande wie Ungeziefer zertreten.«
Keiner von uns hatte die Einladung des Monarchen beherzigt und sich gesetzt. Emerson stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah auf den Regenten hinunter. Das war bewusst unhöflich, zumal das Hofzeremoniell Knien oder Sitzen vorschrieb, damit man den Herrscher nicht überragte. Selbiger wirkte eher belustigt als beleidigt. Wenn er nicht widerrechtlich die Macht an sich gerissen hätte, wäre er eigentlich ein sympathischer Zeitgenosse gewesen.
»Hölle und Verdammnis«, schnaufte Emerson. »Ich will wissen, was Ihr mit Nefret gemacht habt. Ihr oder irgendeiner Eurer Helfershelfer hat die Mädchen bei Nacht und Nebel entführt und damit die Ehre dieses Hauses und die ungeschriebenen Gesetze der Gastfreundschaft sträflich verletzt.«
Nach meiner Einschätzung war das eine überzeugende Argumentation, die Merasen exakt übersetzte, denn der König biss die Kiefer aufeinander. Ohne dessen Antwort abzuwarten, meinte Merasen herablassend: »Die Priesterin weilt wieder im Schutz des Tempels, mit ihren auserwählten Dienerinnen. Der Schrein der Göttin ist nicht mehr leer.«
»Und das andere Mädchen?«, bohrte Ramses.
»Die Magd der Priesterin ist bei ihr. Die Göttin hat sie akzeptiert.«
Ich sagte: »Verstehe ich Euch richtig, Merasen? Nefret musste hergebracht werden, weil sie wieder die Hohepriesterin der Isis sein soll?«
»Sie ist immer Hohepriesterin gewesen, ehrwürdige Dame«, erwiderte Merasen. »Sie hat nämlich nie eine Nachfolgerin bestimmt. Als sie von uns weggeholt wurde, verließ die Göttin ihren Schrein, und die Gebete der Gläubigen wurden nicht mehr
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