Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
erhört. Jetzt wird auch die Göttin zurückkehren.«
»Grundgütiger«, seufzte ich. Mir fehlten die Worte. Überdies lenkte mich eine kaum merkliche Bewegung hinter einem der Vorhänge ab. Dahinter befanden sich bestimmt Türen oder Nischen. Im großen Thronsaal war es genauso gewesen – in einer der verhängten Nischen hatte sich die vornehmste der Hohepriesterinnen aufgehalten, die Gottesgemahlin des Amun, die mehr Macht besaß als der König. Wie wir später mit Entsetzen und Bestürzung festgestellt hatten, war es Nefrets Mutter, die den Verstand verloren hatte und nicht mehr wusste, wer sie war. Damals hatte ich sie nicht mehr retten können, weil sie ihren Wahnvorstellungen erlegen war. Lauerte ihre Nachfolgerin uns dort auf? Ich beschloss, sofort danach zu fragen.
»Ist die Heneshem präsent?«, erkundigte ich mich und fiel Emerson ins Wort, der vehement darauf pochte, unsere Adoptivtochter sehen zu wollen.
Er stockte mitten in seiner cholerischen Tirade und starrte mich an. »Gute Güte, Peabody, die Frau ist tot. Sie –«
»Wurde bestimmt durch eine andere ersetzt. Irgendjemand ist da hinter dem Vorhang«, beteuerte ich. »Er hat sich bewegt.«
Merasen starrte ebenfalls dorthin. »Wieso erkundigt ihr euch nach der Heneshem? Sie ist nicht hier, sondern in ihren Gemächern. Sie hat hier keine Macht. Mein Vater besitzt die –«
»Ich bestehe darauf, ich will Nefret sehen«, wetterte Emerson. »Wer sagt mir denn, dass sie nicht verletzt ist, hm?«
»Ihr werdet sie bald sehen. Nachdem sie ihre Aufgaben wieder aufgenommen hat. Wer könnte ihr etwas antun? Sie ist die meistgeschätzte Frau und wird von der Göttin geliebt.«
»Trotzdem wissen wir nicht, wie es ihr geht«, schaltete ich mich ein. »Im Übrigen habe ich noch eine ganze Reihe von Fragen an Seine Majestät.«
»Das glaube ich dir gern, Peabody.« Der Professor zwang sich zur Ruhe. »Aber wenn ich mir den Blödsinn von diesem hinterhältigen Gnom noch lange anhören muss, vergess ich mich.«
Merasen schmollte wie ein kleines Kind. Wir hatten Begriffe eingestreut, die er nicht kannte, und das kratzte an seinem Ego. Der König wirkte zunehmend ungeduldig, da die Unterhaltung fortgeführt wurde, Merasen aber nicht mehr dolmetschte. Unvermittelt sprang er auf. »Kommt«, erklärte er auf Meroitisch und deutete eine ausladende Geste an. Wir folgten ihm durch einen langen Bogengang auf eine Terrasse mit den Statuen der Gottheiten.
Die Sonne stand im Zenit und das gigantische Felsental des Heiligen Bergs erstreckte sich rechts und links der erhöhten Balustrade, auf der wir standen – unter uns Felder und kleine Dörfer, prachtvolle Paläste und Tempel. Eine breite, von Sphinxen gesäumte Treppenflucht führte auf die Straße zu den Klippen, von den Unterkünften der Adligen vorbei am Palast hin zum Großen Tempel des Amun Re, oder Aminre, wie er hier genannt wurde. Mit Blattgold überzogene Obelisken glitzerten im Sonnenlicht und die gemalten Reliefe auf den Kolonnaden schimmerten in brillanten Farben. Auf der Stele links von uns packte die hünenhafte Gestalt eines Herrschers oder Gottes eben einen knienden Feind an den Haaren, in der anderen Hand drohend einen Speer erhoben. Hinter dem König stand eine kleinere weibliche Gestalt, die ebenfalls eine Waffe gezückt hielt. Solche Szenen waren mir aus anderen Tempeln vertraut, aber hier war der Farbauftrag frisch und leuchtend: die schwarzen Haare des Königs, sein bronzefarbener Teint; die Frau um einiges hellhäutiger. Ihr Haar war ebenfalls schwarz. Ich blinzelte, versuchte, Details auszumachen, da die Silhouetten irgendwie unrealistisch anmuteten, vor allem die Darstellung der weiblichen Person. Sie war weitaus schlanker als die kuschitischen Königinnen, die für ihre Leibesfülle bekannt waren; und was für eine Waffe hatte sie da in der Hand?
»Dieser Pylon ist neu«, brummte Emerson. »Zumindest die Reliefe. Ich frage mich, wen diese weibliche Figur darstellen soll? Eine Göttin? Isis jedenfalls nicht, die trägt einen anderen Kopfschmuck, aber vielleicht Maat oder –«
Ramses’ Kehle entwich ein zerrissener Laut. »Es ist Mutter«, stöhnte er. »Das seid ihr, du und Mutter. Siehst du nicht den Schirm?«
Aus Briefsammlung C
Liebe Lia,
mag sein, dass du diesen Brief nie bekommen wirst. Aber Tagebuch führen möchte ich nicht, weil das so unpersönlich ist, zumal ich auch nicht weiß, wie es den anderen geht. Ich schreibe einfach auf, wie es hier ist. Zunächst, ich bin ganz
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