Amelia Peabody 17: Die Schlangenkrone
Ramses der Form halber.
»Nach Deir el-Medina, wohin sonst? Wasim sollte Selim informieren, daß der die gesamte Mannschaft zusammentrommelt.«
Ich fläzte mich behaglich in meinem Sessel. »Ich muß mich um unseren Gast kümmern, Emerson. Anders als sein Bruder möchte er sich bestimmt etwas ausruhen und erfrischen nach der langen ermüdenden Zugfahrt. In ein oder zwei Stunden –«
»So ein Larifari!« entfuhr es Emerson. »Ihr kommt unverzüglich nach, wenn ihr fertig seid. Und ihr zwei reitet mit mir.«
Aus Manuskript H
Emerson wäre so wie er war aus dem Haus gestürmt, wenn seine Gattin ihn nicht gedrängt hätte, den guten Anzug gegen Arbeitskleidung zu tauschen und einen Tropenhelm aufzusetzen. Als Ramses und Nefret aufbruchfertig waren, wartete er bereits ungeduldig. Er ging im Laufschritt voraus, über die steilen Anhöhen hinter Deir el-Bahari auf dem Pfad, den die frühen Arbeiter benutzt hatten, um von ihren Hütten ins Tal der Könige zu gelangen, wo sie die Monumentalbauten der Herrscher anlegten und schmückten. Wenngleich der kürzeste Weg ins Dorf, war er mühsamer als die Straße, die von Norden her ins Tal führte. Dennoch gehörte er zu Emersons bevorzugten »Spaziergängen«, eine Auffassung, die andere Familienmitglieder nicht teilten.
Gleißendes Sonnenlicht strömte in das enge Tal. Am Nordende stand der Ptolemäische Tempel, das einzige relativ intakte Bauwerk. Im Dorf selbst säumten Lehmziegelfundamente und -wände sowie kleine Häuser rechts und links die einzige Straße. Es war kein sonderlich eindrucksvolles Ausgrabungsgebiet. Die Ruinen hatten das gleiche langweilige Graubraun wie alles im Tal, nirgends ein bißchen Grün, keine Farbspuren von verwitterten Malereien oder abblätternder Goldauftrag. Der Ort war im 14. Jahrhundert vor Christus entstanden, für die Handwerker und Künstler, die an den Pharaonengräbern gearbeitet hatten, und ihre Familien.
Trotz seiner wenig anziehenden Optik hatte das Dorf eine archäologische Sensation beherbergt: das Grabversteck der Hohepriesterinnen des Amon, mit prunkvollen Sarkophagen und erlesenen Schmuckstücken. Bertie und Jumana hatten es seinerzeit entdeckt, worauf Monsieur Lacau die meisten Artefakte für das Kairoer Museum beanspruchte. Als leidenschaftlicher Sammler war Cyrus indes nicht leer ausgegangen. Nach Ramses’ Einschätzung waren in Deir el-Medina Artefakte von hoher altertumswissenschaftlicher Bedeutung entstanden. Die Bewohner, geschickte und erfahrene Handwerker, hatten mitunter sogar lesen und schreiben können. Das bewiesen die zahlreich hinterlassenen Schriftstücke – Papyri oder Tonscherben mit hieratischen und späterhin demotischen Zeichen. Nach der verblüffenden Erkenntnis, daß Europäer gutes Geld für solchen »Müll« zahlten, hatten die hiesigen Fellachen illegal hier gegraben und die Fundstücke an Sammler und Museen verkauft. Die kleinen Privatgräber auf dem Hügelkamm, von den Arbeitern jeweils für ihre eigene Bestattung errichtet, hatten den umtriebigen Grabräubern mithin lukrative Einkommen beschert: Wandgemälde, Votivstelen, Grabbeigaben ließen sich trefflich in klingende Münze verwandeln.
Ramses konnte sich ein solches Dasein nicht vorstellen, allerdings waren die frühzeitlichen Arbeiter für ägyptische Verhältnisse sehr gut bezahlt worden, und die dichtgedrängt stehenden Häuser hatten den Bewohnern vermutlich gefallen. Vor dreitausend Jahren war die mittlerweile totenstille Straße zudem voller Leben gewesen, wie einige der erhalten gebliebenen schriftlichen Dokumente enthüllten.
Mit einer gewissen Schadenfreude registrierte Ramses, daß sein Vater sich nicht unmittelbar in die Arbeit würde stürzen können. Ein Stück weiter, am nördlichen Ende der Ausgrabungslinie, standen Daoud und Selim mit ein paar von ihren Leuten zusammen – und aus der schwatzenden, gestikulierenden Menge ragte eine hochgewachsene Gestalt im eleganten weißen Leinenanzug. Cyrus Vandergelt steuerte geradewegs zu ihnen, als sie ins Tal hinabstiegen. Bertie und Jumana waren bei ihm. Nach einem knappen Morgengruß bombardierte der Amerikaner Emerson mit Fragen.
»Warum haben Sie uns nicht informiert, daß Sie zurück sind? Was haben Sie erfahren? Wer ist der Bursche, der Sie begleitete? Haben Sie Lacau getroffen?«
»Bin vorhin erst angekommen«, erwiderte Emerson. »Schwer beschäftigt. Viel zu tun. Selim, Daoud –«
»Oh nein, so nicht«, sagte Cyrus entschieden. »Wir haben einiges zu besprechen, Emerson.
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