Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
dieses entsetzliche Mädchen, das dich spätabends in den Park lockte? Du hast mir nie verraten, ob sie dich geküsst hat, bevor sie in Ohnmacht fiel. Du musstest sie notgedrungen raustragen.«
»Ich war erst sechzehn«, protestierte Ramses.
»Hat sie?«
»Ja.« Er grinste. »Es war ein ungeheuer romantischer Kuss. Oder wäre es gewesen, wenn uns nicht ein potenzieller Attentäter gestört hätte.«
»Daran hat sich bis heute nichts geändert«, versetzte Nefret lachend.
»Das gefällt dir, was? Dir haben diese Nervenkitzel immer diebischen Spaß gemacht.«
»Nein, nicht immer. Die Erinnerung malt man sich eben in den schönsten Farben. Trotzdem … Kairo hat was.«
Eine längere Pause schloss sich an, in der sie das pulsierende Leben der Großstadt auf sich wirken ließen.
»Mittlerweile müsste er eingetrudelt sein.« Ramses erhob sich. »Trink deinen Kaffee aus. Ich telefoniere kurz.«
Bei seiner Rückkehr informierte er sie, dass Russell zwar noch nicht in seinem Büro sei, aber jeden Augenblick erwartet werde. »Er wird mich empfangen.«
»Aber hallo, das hatte ich auch nicht anders erwartet«, platzte Nefret heraus. »Sollen wir hinlaufen? Es ist nicht weit – am Park vorbei und dann geradeaus die Sharia Mohammed Ali hinunter.«
»Bist du sicher?«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Sollten wir Bashir sehen, knall ich ihm eine.«
»Der ist längst über alle Berge«, seufzte Ramses. »Der war nie zum Helden geboren.«
Kurz vor der Bab el Khalk mit ihren Verwaltungsgebäuden wurde Nefret von einem Passanten angerempelt. Ramses schnellte mit einer scharfen Zurechtweisung zu dem Mann herum und gewahrte zwischen Turban und wild wucherndem Bart ein schreckgeweitetes Augenpaar. Bashir packte ihn am Arm. »Lauft weg«, japste er. »Sie lauern euch hier irgendwo auf. Lauft –«
Ramses vernahm das Krachen einer Gewehrsalve. Er warf sich auf Nefret und zerrte sie hinter einen mit Zukkerrohr beladenen Karren. Ein weiterer Schuss, und ein Regen grüner Pflanzenfasern ergoss sich auf die Straße. Passanten stoben kreischend auseinander. Mitten auf dem Gehsteig lag Bashir hingestreckt in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache.
Kinder spüren instinktiv, dass etwas anders ist als sonst, auch wenn die Erwachsenen um sie herum sich ganz normal verhalten (es zumindest probieren). Carla machte eine Riesenszene, als sie erfuhr, dass ihre Eltern ohne ein Wort des Abschieds weggefahren waren. Eher halbherzig – ich gestehe, ich war mit den Gedanken woanders – versuchte ich, sie zu beruhigen, schaffte es aber erst mithilfe von David, Emerson und Sennia, sie zu trösten. Und einiger kleiner Ablenkungsmanöver – einer Handvoll Süßigkeiten, einem Besuch im Stall sowie einem ausgedehnten Versteckspiel, an dem alle teilnahmen. David John ging es nicht anders als seiner Schwester, gleichwohl zeigte er seine Gefühle nicht offen. Ihre Temperamentsausbrüche waren heftig, aber schnell vorbei, während er still vor sich hin brütete. Nachdem wir Carla moralisch wieder aufgebaut hatte, wollte ich nach ihm schauen.
Er war weder in seinem Spielzimmer noch bei Fatima in der Küche oder mit Amira zusammen. Zu guter Letzt entdeckte ich ihn im Salon, wo er, in einen Sessel gekuschelt, ein Buch las.
»Eins von den Weihnachtsgeschenken?«, erkundigte ich mich.
»Nööö«, murmelte David John. »Die hab ich schon alle gelesen.«
Erst als er es hochhielt, sah ich den Einband. Auf dem Schutzumschlag war eine dürftig bekleidete Schönheit abgebildet, in inniger Umarmung mit einem Beduinenscheich. »Grundgütiger«, rief ich. »Ich hab dir schon zigmal erklärt, David John, dass du dir ohne Erlaubnis keine Bücher aus den Regalen nehmen darfst.«
»Das hab ich auch nicht, Großmama, das Buch lag hier auf dem Tisch, und da ich nichts mehr zu lesen hatte …«
Bei dem Titel handelte es sich um einen populären Liebesroman, den ich Margaret geliehen hatte. Er hatte in der Tat auf dem Tisch gelegen, da ich es versäumt hatte, das Buch zurückzustellen.
Ich musste mich bremsen, um es ihm nicht spontan aus der Hand zu reißen. Er war ja gar nicht ungehorsam gewesen. »Und, gefällt es dir?«, fragte ich, da ich entgeistert feststellte, dass er schon gut die Hälfte des unsäglichen Schmökers verschlungen hatte.
»Oh ja.« Der kleine Kerl nickte. »Manches verstehe ich allerdings nicht so ganz. Omi, vielleicht könntest du mir erklären, was die Dame meint, wenn sie sagt –«
»Nein«, versetzte ich hastig. »Bedaure, mein
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