Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
geblieben?
In den nächsten Tagen grübelte sie viel. Sie wickelte sich in ihre Mummus, nährte sich in der Hauptsache von Müsliriegeln und ging wieder einmal der Frage nach, wie es möglich war, dass ein paar regennasse Augenblicke ohne greifbare Ergebnisse ihr Inneres, ja ihre ganze Existenz derart hatten auf den Kopf stellen können. Hermann raus, Phantom rein. Drei Monate Chaos im Leben der Amelie Lenz. Freilich, ohne Chaos keine neue Ordnung. Und Amelie liebte Ordnung.
Ergo: Was für ihre Beziehung zu Hermann galt, musste auch für die Fixierung auf den Mann mit den Gamaschen gelten. Die vagen Hoffnungen und nebulösen Konzepte zu seiner Auffindung mussten ein Ende haben. Ein Schlussstrich gehörte her. Die Augenblicke auf dem Ballhausplatz, die Stimme des Mannes, das Gefühl, das sie in seinen Armen empfunden hatte, waren schon jetzt nur mehr mühsam zu evozieren. Uli hatte Recht, alles Schimäre… Außer dem Hinken!
Amelie öffnete ihren Laptop und ging ins Netz. Hinken. Reihenweise Links zum Thema Hinken. Dauerzustand oder vorübergehend, bzw. nur zeitweilig (Claudicatio intermittens) …Hübsches Fremdwort das, und interessanter Gedankenansatz: Hinkt X dauernd, oder hinkte er nur vorübergehend? Oft kombiniert mit ausgleichender Haltungs u. Bewegungsatypie von Rumpf u. Armen – Nein, unzutreffend, X hat sich wie eine Kerze gehalten, naja fast… nein, eher nicht, vorgebeugt war er schon… aber das war wegen Regen und Wind… Je nach Ursache als psychogenes, v.a. aber als Verkürzungs, Versteifungs, Lähmungs, Schmerzhinken. – Hoffentlich keine psychische Macke. Und nur keine Lähmung, das wäre ja schrecklich. – Da, noch ein Link: Das schwarze Netz. Hinken…Das biblische erste Buch der Könige beschreibt die Priesterschaft des Baal als hinkend…Dem Hinken ähnlich ist die Einäugigkeit … Interessant. Diabolisch.
Amelie klickte den Link an, der Bildschirm wurde schwarz. Notfall, Krise! Sie war nicht sehr firm im Umgang mit ihrem Computer, mühevoll hatte sie sich eingeprägt, was im Absturzfall zu tun war. Es gelang ihr, das Bild wieder hochzufahren. Zweiter Versuch. Noch einmal das Schwarze Netz anklicken. Erneuter Absturz. War das ein Zeichen?
Mit zittrigen Fingern manövrierte sie den PC in seinen Zustand quo ante , ehe sie ihn schloss. Wirre Gedanken flogen sie an. Zauberei, schwarze Magie. Sollte es ja geben. Am Ende war X eine Ausgeburt ihrer Phantasie. Ein Trugbild, von irgendeinem böswilligen Wesen ihr an den Hals gehetzt, um sie zu verstören, verrückt zu machen. Einen Grenzwissenschaftler müsste man um Rat fragen…
Nein, Amelie, das denn doch nicht! Du wirst jetzt nicht durchknallen. Du wirst dich zusammenreißen und ausschließlich an Greifbares, Handfestes halten. Krieg dein Leben gefälligst in den Griff. Vegetiere nicht dahin wie ein Einsiedlerkrebs im leeren Schneckenhaus, mit der Seeanemone Uli und sonst niemandem symbiotisch verbunden. Dock wieder an. Du hast Burgi, den Wirklichen Hofrat, deine Kunden, dein Geschäft…
Sie atmete auf, als Dreikönig vorüber war. Als sie in den Laden ging, zählte sie zum ersten Mal nach Monaten wieder Schritte. Sie holte August aus der Auslage, befreite ihn von seiner Silvesterdekoration und klopfte den Staub aus seinem Fell. Nachdem sie seine Glasaugen auf Hochglanz poliert hatte, setzte sie ihn in sein Stühlchen, hockte sich davor, ergriff seine weichen Pfoten und wisperte in sein Teddygesicht: »Was glaubst du, Augustle – hat unsere Zukunft endlich begonnen?« Es sah so aus. Und Amelie hatte nicht einmal die Initiative ergreifen müssen.
Zunächst rief Burgi Wechsler an. Sie habe bei einem Altwarenhändler eine ramponierte Puppenstube entdeckt, die sie Amelie zeigen wolle, Amelie möge doch bei ihr zu Hause vorbeischauen.
Burgis Wohnung glich einem Spielzeugmuseum. Ihre Puppensammlung galt als eine der bedeutendsten des Landes. Wohin man sah: Puppen. Amelie dachte an ihr auf klare Linien und Schlichtheit ausgerichtetes Salettl. Kein einziges Spielzeug stand darin herum. ›Sonderbar. Obwohl Spielzeug meine Passion ist. Tiefenpsychologisch interessant‹, überlegt sie während sie die von Burgi angepriesene Puppenstube untersuchte. Ein winziger Salon mit Kredenz, Tisch und Stühlchen. Tapeten und Vorhänge in schlechtem Zustand; ganz intakt hingegen ein Miniaturvogelkäfig, ein Blumentischchen, eine modische Dame mit Hut und eleganter Robe und ein Bubenpüppchen in Samtanzug und blonden Löckchen.
»Um 1880, Süddeutschland
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