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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Hure. Sie kam geradewegs auf ihn zu, und ehe er noch beiseite treten konnte, ehe er seine Unschuld beteuern oder wieder in die Unsichtbarkeit entschwinden konnte, spürte er die Berührung ihrer Hand, und seine Finger schlossen sich unwillkürlich um die Münzen.
    Diese Berührung vernichtete ihn. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so geschämt, weder als er betrunken auf der Straße lag, noch als Teófilo Aguadulce ihm seine Frau wegnahm und ihn auf dem Dorfplatz vor allen Leuten in den Dreck stieß. Er senkte den Kopf, ließ die Arme hängen. Scheinbar stundenlang stand er da, nachdem die Frau in ihr Auto gestiegen, vom Parkplatz gefahren und verschwunden war, und erst dann öffnete er die Hand und betrachtete die zwei Vierteldollars und das Zehncentstück, die dort klebten, als wären sie in die Haut eingebrannt.
    Als sie die Neuigkeit hörte - »Sie haben die Arbeitsvermittlung zugemacht!« knurrte Cándido mit trotziger, streitlustiger Miene -, hatte América Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Sie verspürte so viel Erleichterung, Freude und Hoffnung wie seit dem Abend nicht mehr, als sie im Haus ihres Vaters im Bett lag und darauf wartete, daß Cándido an ihr Fenster klopfte und sie mit nach Norden nahm. Endlich, dachte sie und stieß den Atem in einem langen Seufzer aus, den Cándido wahrscheinlich als Zeichen von Kummer deutete. Ihre Züge zeigten keinerlei Regung, sie ließ sich das Haar ins Gesicht fallen. Cándido war verbittert, wütend, war kurz davor zu explodieren. Er machte sich auch Sorgen, das sah sie, und einen Moment lang überwältigte sie ebenfalls Unsicherheit, und sie hatte Angst. Aber dann durchfuhr es sie wieder: Nun gab es keine Wahl mehr, kein Zweifel, daß sie dieses Gefängnis aus Bäumen verlassen mußten, diesen Misthaufen, wo sie beraubt und verletzt und mißbraucht worden war und wo sich die Tage wie unendliche Jahre in die Länge zogen. Sie mochte diesen Ort nicht. Insekten stachen sie. Der Boden war hart. Wenn sie eine Tasse Kaffee wollte, mußte sie jedesmal Holz sammeln und ein Feuer machen. Was war das für ein Leben? In Morelos wäre sie besser dran gewesen, im Haus ihres Vaters, den sie bedient hätte wie eine Magd, bis sie eine verschrumpelte alte Jungfer geworden wäre.
    »Wir werden hier wegmüssen«, sagte sie leise, und die Stadt, die sie kannte - fremd, erschreckend, ein Ort, wo Schwarze durch die Straßen streiften, und bettelnde gabachos in der Gosse hockten -, wich der Stadt ihrer Träume. Dort gab es schöne Geschäfte, von Bäumen gesäumte Straßen, fließendes Wasser, Toiletten, eine Dusche. Sie hatten dreihundertzwanzig Dollar - vielleicht konnten sie eine kleine Wohnung mit einem anderen Paar teilen, mit Leuten wie sie selbst, aus Tepoztlán oder Cuernavaca, ihre Mittel zusammenlegen und wie eine große Familie leben. Ganz egal wie klein und wie schmutzig die Wohnung war, mit Ratten und Kakerlaken und Schießereien vor dem Fenster, es konnte nur besser sein als hier. Die ganze Zeit hatte Cándido es hinausgezögert, sie brauchten mehr Geld, hab Geduld, mi vida, hab Geduld -, aber jetzt half kein Zögern mehr.
    »Noch nicht«, sagte er.
    Noch nicht? Am liebsten wäre sie ihm ins Gesicht gesprungen, mit den Fäusten auf ihn losgegangen. War er verrückt? Hatte er etwa vor, den Rest seiner Tage hier wie ein Höhlenmensch zu verbringen? Sie beherrschte sich, kauerte still auf dem Sand über der novela, die sie schon so oft gelesen hatte, daß sie sie auswendig wußte, und wartete. Er war wie ihr Vater, genau wie er: verstockt und stur, immer der große Chef. Diskutieren war sinnlos.
    Cándido saß in der Unterhose am Rand des Tümpels, auf seiner Haut glitzerten Wassertropfen. Er war gerade von oben gekommen, durch das Wasser gewatet und hatte sich dann mit seiner schwerwiegenden Ankündigung neben ihr fallen lassen. Es war die heißeste Stunde des Tages. Alles war stumm. América spürte den Schweiß unter ihren Achseln und weiter unten, dort wo es juckte, ständig juckte, obwohl es wenigstens beim Pinkeln jetzt nicht mehr brannte. »Morgen werde ich den Cañon hinaufgehen«, sagte er, »ganz früh, wenn es noch dunkel ist, bevor La Migra kommt und beim Postamt und der Arbeitsvermittlung herumschnüffelt. Ich werde die Augen offenhalten - am besten vielleicht in Canoga Park - und sehen, ob ich irgendwo was finden kann.«
    »Eine Wohnung?«
    »Wohnung? Was ist denn bloß los mit dir?« Seine Stimme hob sich ein gutes Stück. »Du weißt doch, daß wir uns

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