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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Nester stoben. Am ersten Tag fing er nichts, aber er verbesserte seine Technik, lag regungslos im knochenweißen Staub und übte die blitzschnelle Drehung des Netzes aus dem Handgelenk, so wie ein Tennisspieler, der an seiner Rückhand arbeitet.
    Auch am nächsten Tag stellte ihn niemand an, und während América die Bohnen einweichte und zum hundertsten Mal ihre novelas las, versuchte er erneut sein Glück. Innerhalb einer Stunde fing er vier winzige Vögelchen mit grauen Federn, nicht größer als sein Daumen, denen er kurzerhand den Kopf zerdrückte, und dann hatte er Glück und erwischte einen Blauhäher, der mit einem verletzten Flügel ins Unterholz davonhoppelte und sich nach kurzer Jagd einfangen ließ. Er rupfte die Vögel und wusch sie im Bach - viel war nicht an ihnen dran, vor allem an den kleinen nicht -, und dann machte er Feuer und briet sie in Fett, mitsamt den Köpfen. América rührte sie nicht an. Er aber steckte jedes winzige Knöchelchen in den Mund und saugte es aus, und das verschaffte ihm Befriedigung, das Glück des Jägers, eines Mannes, der sich von der Natur ernähren konnte, aber er gab sich dem Gefühl nicht hin. Wie auch? Das Fleisch hatte den Beigeschmack der Verzweiflung.
    Am nächsten Tag war er wie immer beim ersten Morgengrauen wach, blies in seinen Kaffee, während América auf dem rauchlosen Feuer Eier, Chilis und Tortillas briet, und machte sich dann auf den Weg zur Arbeitsvermittlung, diesmal optimistisch, ja richtig vergnügt, denn die Schwingen der kleinen Vögel sausten in seinen Adern.
    Sein Hinken war verschwunden - beinahe jedenfalls -, und auch wenn sein Gesicht nie wieder wie früher aussehen würde, war immerhin die Schorfkruste abgefallen, so daß die Haut darunter wieder zum Vorschein kam. Er hatte ja nicht vor, an irgendwelchen Schönheitswettbewerben teilzunehmen, aber wenigstens sahen die patrones in den Pritschenwagen jetzt nicht mehr automatisch an ihm vorbei zum nächsten Mann. Der Himmel wurde immer heller. Cándido begann vor sich hinzupfeifen.
    Aus Gewohnheit hielt er den Kopf gesenkt, während er die Straße entlangging, denn er wollte nicht riskieren, den Gringos oder Gringas in die Augen zu sehen, die in ihren makellosen neuen japanischen Autos auf dem Weg zur Arbeit vorbeifuhren. Für sie war er unsichtbar, und dabei wollte er es auch belassen, wollte sich ihnen nur bei Arbeitsvermittlung zeigen - dort sollten sie sehen, wer er war und was er zu bieten hatte. Auch zu dem Gewühl auf dem Parkplatz vor dem Chinesenladen sah er kaum hinüber - süße Brötchen, Kaffee in Styroporbechern, hektisch gerauchte Zigaretten -, nein, er hob den Kopf eigentlich erst, als er den Kies auf dem Platz vor der Arbeitsvermittlung unter den Füßen spürte. Er fragte sich, ob er wohl der erste in der Schlange sein würde, dachte an den Tag, der vor ihm lag, pfiff eine Melodie aus dem Radio, die er seit Jahren nicht mehr gehört hatte, als er aufblickte und wie vom Donner gerührt war: Es war nichts mehr da. Keine Pfeiler, kein Dach, keine Campesinos in Khakihemden und Strohhüten. Gar nichts. Es war, als wäre über Nacht ein Hurrikan darüber hinweggefegt, ein Tornado, der das ganze Gebäude in die Lüfte mitgerissen hatte. Cándido sah sich verwirrt zweimal um, bis er die Orientierung wiedergewonnen hatte. Träumte er etwa? War das möglich?
    Aber nein. Jetzt sah er die Kette - nein, zwei Ketten - und auch die Schilder. An beiden Einfahrten des Platzes waren zwei Pfosten in die Erde gerammt, und dazwischen hingen Ketten, so dick, daß daran Schiffe hätten ankern können. Die Schilder waren an die Pfosten genagelt. Privat, schrien sie in grellen roten Lettern, Betreten bei Strafe untersagt, und obwohl Cándido kein Englisch lesen konnte, begriff er den Sinn. Was war passiert? fragte er sich. Worin bestand das Problem? Doch noch während er sich das fragte, wußte er die Antwort: die Gringos waren es satt gewesen, so viele arme Leute vor ihrem Einkaufszentrum zu sehen, so viele Mexikaner und Honduraner und Salvadorianer. Hier gab es keine Arbeit mehr. Nicht jetzt und nie wieder.
    Auf der anderen Straßenseite, vor dem Postamt, lungerten drei Männer herum wie geprügelte Hunde und hielten sich an ihren Zigarettenkippen fest. Cándido sah, wie ihre Blicke ihn erfaßten, als er eine Lücke im Verkehr nutzte und über die Straße zu ihnen hinüberhastete. Sie senkten den Blick, als er sie begrüßte. »Buenos días«, sagte er und dann: »Was ist hier eigentlich

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