América
angenehme Überraschung. Die Hügel lagen im Dunkeln, aber es war mild und die Luft duftete nach Jasmin, der über die hohen Mauern der Häuser entlang der Straße hing. Eine Stunde marschierten sie schweigend dahin, und nur gelegentlich erfaßten sie die Scheinwerfer eines Autos, ehe sich wieder die Nacht über sie legte. Im Gestrüpp am Straßenrand raschelte es - Mäuse, vermutete sie -, und zweimal hörten sie Coyoten in den Bergen heulen. Der Mond versank hinter ihnen, wurde dabei immer größer, und América machte das Gewicht ihres Babys gar nichts aus, auch sein beständiges Strampeln nicht. Sie ließen den Cañon hinter sich, den schmalen Sandstreifen und das häßliche Autowrack, und nur das war ihr wichtig.
Als sie den Gipfel erreicht hatten und das San Fernando Valley sich vor ihnen ausbreitete wie ein riesiger glitzernder Fächer, mußte sie anhalten und Atem schöpfen. »Komm schon«, drängte Cándido und beugte sich über sie, während sie auf einem Flecken mit hartem Gras niedersank, »wir haben keine Zeit zum Rasten.« Aber sie hatte sich überschätzt, und das spürte sie nun: eine schwangere Frau, die in ihrem Kerker am Bach ihre Kraft verloren hatte. Ihre Füße waren geschwollen. Sie konnte den eigenen Schweiß riechen. Jetzt war das Baby wie ein schweres Gewicht, das ihr um den Bauch geschnallt war. »Un momento«, hauchte sie und starrte zum Talboden hinab auf die gestrandeten Sternenkonstellationen, die gitterartigen Linien der Lichter, und alle diese Lichter waren Häuser, Wohnungen, Eigenheime, möblierte Zimmer, und alle verhießen ein Leben, das nie wieder so hart sein würde.
Cándido hockte sich neben ihr nieder. »Geht es nicht mehr?« flüsterte er und beugte sich vor, um sie zu umarmen, ihren Kopf an seine Schulter zu drücken, so wie ihr Vater es getan hatte, als sie noch ein Kind war und sein kleiner Liebling, wenn sie sich das Knie aufgeschürft hatte oder aus einem bösen Traum erwacht war. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er, und sein warmer Atem strich über ihre Wange, »gleich da unten«, und sie ließ sich von ihm die Stelle zeigen, hinter den hohen Bürotürmen, die wie steinerne Monolithen aufragten, wo ein doppeltes Band aus hellen Lichtern im rechten Winkel zu den langen vertikalen Hauptstraßen verlief, die sich bis in die Finsternis der Berge am anderen Ende des Tals erstreckten. »Da, das ist es«, sagte er. »Diese Lichter dort, siehst du sie? Das ist der Sherman Way.«
Sherman Way. Sie hielt die Worte fest wie ein Talisman, Sherman Way, und dann gingen sie weiter, auf dem schwarzen Band der Straße, die sich den Hügel hinabschlängelte, als jagte sie ihrem eigenen Schwanz nach. Cándido kannte Abkürzungen, steile, schmale Pfade, die jäh durch das Gestrüpp bergab führten, so schnitten sie die Haarnadelkurven ab, und er hielt ihre Hand und half ihr über die schwierigsten Stellen hinweg. Ihre Füße fühlten sich an wie Steine, und jetzt wurde sie auch unbeholfen. Scharfe Grashalme stachen durch ihr Kleid, alles mögliche blieb ihr im Haar hängen. Und jedesmal, wenn sie wieder auf dem Asphalt gingen, fuhren jetzt Autos an ihnen vorbei. Es war noch nicht einmal hell, aber da waren sie - das erste sporadische Erwachen jenes endlosen Stroms -, rasten neben ihnen die Straße entlang, und dann lag nichts Erfreuliches. América hielt den Kopf gesenkt und hastete dahin, so schnell sie konnte, innerlich verzehrt von der Angst vor La Migra und vor gewöhnlichen Verkehrsunfällen.
Als die Sonne aufgegangen war, hatten sie die Qual hinter sich. Sie gingen Hand in Hand auf einer breiten Straße, im Schatten von Bäumen und auf einem Fußweg, an hübschen Häusern mit hübschen Gärten vorbei, die sich neben ihnen erstreckten, so weit das Auge reichte. América war beschwingt, in helle Aufregung versetzt. Die Müdigkeit der vergangenen Stunden war wie durch Zauberhand von ihr abgefallen. Sie hing an Cándidos Arm und spähte in jedes Fenster, musterte die Autos auf den Einfahrten und die Spielsachen in den Gärten mit dem Blick eines Gutachters und kommentierte jedes Haus, an dem sie vorbeikamen. Die Häuser waren wunderschön, linda, simpática, süß. Diese Farbe da - scheußlich, nicht wahr? Und die Bougainvilleen - noch nie hatte sie so üppige Bougainvilleen gesehen. Cándido blieb stumm. Sein Blick schweifte ruhelos umher, und er sah besorgt aus - er war auch besorgt, er sorgte sich wegen der Zukunft, das wußte sie, aber sie konnte nicht anders: Oh, sieh dir nur
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