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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sehnte, seitdem er Resurrección kennengelernt hatte, und was war sein Vermächtnis für ihn? Dreihundertzwanzig Dollar in einer Erdnußbutterdose? Eine Hütte aus Stöcken, die sogar die prähistorischen Indios verschmäht hätten? Ein kaputter Vater, der nicht einmal sich selbst ernähren konnte, geschweige denn seine Familie?
    Mit bleiernen Füßen wankte er am Postamt vorbei, die Ladenfronten entlang, an den hellen Fenstern vorbei, den sauber aufgereihten Autos, den Symbolen des Reichtums, der rings um ihn herum gedieh, aber doch so unerreichbar war wie der Mond. Und worum ging es bei alledem? Um Arbeit, sonst nichts. Um das Recht zu arbeiten, einen Job zu haben, sich das tägliche Brot und ein Dach über dem Kopf zu verdienen. Er wurde zum Verbrecher allein dadurch, daß er es wagte, das ebenfalls zu wollen, und für das schlichte menschliche Existenzminimum alles aufs Spiel setzte, und jetzt verwehrten sie ihm sogar das noch. Es stank zum Himmel. Wirklich. Diese Menschen, diese norteamericanos : wer gab ihnen das Recht auf alle Reichtümer dieser Welt? Er sah sich um, betrachtete das Gewirr auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt: lauter weiße Gesichter, hohe Absätze, graue Anzüge, gierige Augen und gefräßige Münder. Sie lebten in ihren gläsernen Palästen mit Toren und Zäunen und Alarmanlagen, sie ließen halbgegessene Hummer und Beefsteaks auf den Tellern liegen, während der Rest der Welt verhungerte, gaben allein für Sportausrüstung, für Swimmingpools, Tennisplätze und Laufschuhe genug Geld aus, um ein ganzes Land davon zu ernähren und einzukleiden, und alle, auch noch die Allerärmsten, besaßen zwei Autos. Wo war da nur die Gerechtigkeit?
    Wütend und frustriert, mit einem so verzerrten Gesicht, daß er selbst erschrocken wäre, wenn er es im Vorbeigehen in einem der Fenster gesehen hätte, schlurfte Cándido ziellos über den Parkplatz. Was konnte er tun? Einen Sack mit Vorräten kaufen, damit sie sich eine Woche im Cañon verkriechen konnten, bis die Einwanderungsbehörde das Interesse verloren hatte und weitergezogen war? Es riskieren, per Autostopp die fünfzehn Kilometer ins Tal zu fahren, um dort in der vagen Hoffnung auf einen Job an der Ecke zu stehen? Oder sollte er sich gleich hier zum Sterben niederlegen, um den Gringos die Peinlichkeit zu ersparen, ihn ansehen zu müssen? Er machte zum zweitenmal die Runde über den Platz, zog ohne Ziel und Richtung an den Autoreihen vorbei, murmelte vor sich hin und weigerte sich, wegzublicken, wenn ihn jemand erschreckt anstarrte. Auf einmal sah er den blauschwarzen Lexus vor sich, der mit offenen Seitenfenstern am Randstein geparkt stand.
    Cándido ging daran vorbei, aber er sah deutlich die Damenhandtasche auf dem Beifahrersitz und die Aktenmappe aus schwarzem Leder, die daneben stand. Was war wohl in dieser Tasche - Schecks, Bargeld, Hausschlüssel, eine kleine Brieftasche mit Fotos und noch mehr Bargeld, Hunderte von Dollars vielleicht. Hunderte. Genug, um ihn und América aus dem Cañon direkt in eine Wohnung in Canoga Park zu befördern, genug, um alle ihre Probleme auf einen Streich zu lösen. Und die Aktenmappe? Er stellte sich vor, daß sie voller Banknoten steckte, wie in den Kinofilmen, sauber gestapelte Bündel, zusammengehalten von schmalen Banderolen der Bank. Für den Besitzer eines solchen Wagens waren ein paar hundert Dollar gar nichts, wie Kleingeld für gewöhnliche Menschen. So jemand würde einfach zur Bank gehen und sich neues Geld holen, die Versicherung anrufen, eine Kreditkarte zücken. Für Cándido jedoch bedeutete es die ganze Welt, und in diesem Augenblick, fand er, schuldete ihm die Welt etwas.
    Niemand beobachtete ihn. Er sah nach rechts, nach links, schwang auf den Hacken herum und schlenderte nochmals an dem Wagen vorbei. Das Blut brannte wie Feuer in seinen Adern. Sein Kopf schien fast zu explodieren, so stark war der Druck in seinen Schläfen. Da liegt es, du Narr! sagte er sich. Nimm es. Nimm es jetzt. Schnell!
    Und er hätte es wohl auch getan, er hing bereits in der Schwebe zwischen Plan und Durchführung, alle seine Drüsen schütteten ihre komplexen Säfte aus, wäre nicht die Frau mit dem hellblonden Haar und dem durchdringenden Blick direkt auf ihn zugesteuert, einen Styroporbecher in der weißen, weißen Hand. Er erstarrte. Stand wie paralysiert vor ihrem Auto, während sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbarg. Ihre Absätze klickten auf dem Pflaster, ihr Rock war so eng wie der einer billigen

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