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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nur eine solche Lappalie zwischen sie treten lassen können? Er sah ihr zu, wie sie ein Glas mit Piccalilli-Relish aussuchte, sich vorbeugte, um es in den Einkaufswagen zu stellen, und eine Welle von Zärtlichkeit durchfuhr ihn. Plötzlich lagen seine Hände auf ihren Hüften, und er zog sie an sich und küßte sie auf der Stelle, direkt unter dem Pepsi-lite-Plakat, im Schein der Lampen und vor all den übrigen Kunden mit ihren Einkaufswagen und Kindern und leeren, selbstvergessenen Mienen. Und sie küßte ihn ebenfalls, voller Enthusiasmus und mit dem Versprechen auf mehr.
    Und dann, bei der Kasse, staunte er gleich noch einmal.
    »Wollen Sie Ihren Truthahn?« fragte das Mädchen, nachdem sie alle Artikel eingetippt hatte - einhundertsechs Dollar und neununddreißig Cent, was tat es schon? Das Mädchen hatte dunkle Augen, das Haar zu einer wilden Frisur gesprayt und nachgezogene Augenbrauen, wie ein altkluges verwahrlostes Kind aus einem Stummfilm. Sie kaute Kaugummi und war aufgedreht, badete in der endlosen Flut all dieses Überflusses.
    »Truthahn?« wiederholte Delaney. »Was für einen Truthahn?«
    Der Truthahn lag längst zu Hause in der Kühltruhe, acht Kilo schwer, freilandgehalten und frisch geschlachtet.
    »Ist ein Gratisangebot, gibt's nur diese Woche«, antwortete das Mädchen in einem atemlosen Gebrabbel, etwas undeutlich wegen des rosa Kaugummis, den Delaney kurz zu sehen bekam, als sie bei »Gratis« den Mund öffnete. »Jeder, der über fünfzig Dollar einkauft, kriegt einen Fünfeinhalb-Kilo-Truthahn gratis, einer pro Kunde.«
    »Wir haben schon -«, begann Delaney, aber Kyra schnitt ihm das Wort ab. »Ja, gerne«, sagte sie und sah von ihrer Puderdose auf, »vielen Dank.«
    »Carlos!« trällerte das Mädchen in Richtung des fernen Neonscheins der Fleischabteilung am anderen Ende des Ladens. »Bring mir doch bitte noch einen Truthahn, ja?«
    Cándido Rincón kam die Jahreszeit auch nicht eben gelegen. Die Hitze und der Wind, der einem den Schweiß trocknete, kaum daß er aus den Poren trat, das war schön und gut, geradezu ideal - wenn es nur unbegrenzt so weiterginge, wenn ihm die Sonne nur noch zwei oder drei weitere Monate gewogen bliebe. Aber er wußte genau, daß die Stürme bald ihre Kraft verlieren würden, daß der Himmel sich weit draußen über dem Meer schwärzen und verfaulen würde, um dann zum Sterben übers Land zu ziehen. Er konnte den Regen zwar noch nicht riechen, aber er wußte, daß er im Anzug war. Die Tage wurden kürzer. Die Nächte waren kalt. Und wo würde sein Sohn wohl geboren werden - in einem Bett, mit einem Arzt, der darüber wachte, oder in einer Hütte, auf die der Regen niederprasselte und wo niemand dabei sein würde außer Cándido selbst mit einem Topf Wasser und seinem rostigen Messer?
    Nichts von alledem machte ihn froh, als er den ausgetretenen Pfad zum Supermarkt hinaufschlurfte. América war unten, völlig deprimiert - sie wollte den Unterstand nicht mehr verlassen, so sehr er auch bitten und betteln mochte. Sie benahm sich wie eine Geistesgestörte, saß da mit ihrem dicken Bauch, wiegte sich vor und zurück und summte vor sich hin. Sie machte ihm angst. Egal, was er tat, egal, was er ihr mitbrachte - Zeitschriften, Kleider, etwas zum Essen, eine Rassel und Schühchen für das Baby -, immer hatte sie denselben abwesenden Ausdruck, als ob sie ihn nicht erkennen würde oder erkennen wollte.
    Es lag an dem Lager im Cañon, er wußte es. An der Enttäuschung, hierher zurückkommen und wieder so leben zu müssen wie die Vagabunden, nach der Verheißung jenes Tages in Canoga Park, nach dem Essen im Restaurant, einer Toilette mit Wasserspülung und all den schönen Dingen, den friedlichen, sicheren Häusern mit Autos davor. Sie war zusammengebrochen. So etwas hatte er noch nicht erlebt, nicht einmal auf den Straßen von Tijuana, an den übelsten und widerlichsten Orten. Hysterische Frauen hatte er schon gesehen, aber bei ihr war es etwas anderes gewesen, wie ein Anfall, wie ein Ausbruch, als hätte jemand einen Fluch über sie gesprochen. Sie wollte nicht mehr aufstehen. Wollte nicht mehr weitergehen. Wollte das Hühnchen nicht essen, das er gefunden hatte, einwandfreie Stücke von Kentucky Fried Chicken, die die gabachos einfach weggeworfen hatten, und er war gezwungen gewesen, sie den ganzen Weg in den Cañon zurückzuschleifen, gegen ihr wildes Sträuben. Ja, die Lage war verzweifelt. Ja, sie hatten alles verloren. Ja, er war ein Narr und Lügner, und ja, er

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