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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Tepoztlán verlassen hatte. Der Corvair nahm die Steigung der Cañonstraße mit nur vierzig Stundenkilometern, die Federung quietschte, krachte und schaukelte, die Reifen quietschten, und aus dem Auspuff quoll so schwarzer Qualm, daß Cándido befürchtete, das Gefährt stünde in Flammen, aber sie schafften den Berg und rollten behäbig hinunter nach Woodland Hills, wo Señor Willis vor einem Haus stehenblieb, das so groß wie drei Häuser war, und der glatzköpfige, nervöse Gringo, dem es gehörte, kam heraus und schüttelte ihm die Hand. So lernte Cándido Señor Willis kennen.
    Er arbeitete bis in die Dunkelheit, erledigte alles, was ihm Señor Willis auftrug, hob dies und zog jenes, holte Schraubenschlüssel, Hammer, Bohrschrauber und zwei Pakete Fliesen aus dem Kofferraum des Wagens. Señor Willis renovierte eines der sechs Bäder in diesem gewaltigen, stillen Haus, das mit den Topfpflanzen, den dicken Perserteppichen und den Ledersesseln wie ein Hotel wirkte, und Señor Willis war ein Genie. Ein altes Genie, ein betrunkenes Genie, ein ausgebranntes, zerknittertes und hinfälliges Genie. Aber ein Genie. Zu seiner Zeit hatte er Hunderte von Bädern gebaut, ganze Wohnanlagen, nicht nur in Kalifornien, sondern auch in Panama, wo er sein Spanisch aufgelesen hatte, das dermaßen schlecht war, daß Cándido sich fühlte wie in seiner Kindheit, als die Lehrerin mit den Fingernägeln über die Tafel gekratzt hatte, um die Klasse zur Ordnung zu rufen.
    Eine volle Woche arbeitete Cándido mit Señor Willis, dann war die Arbeit getan und der alte Mann verschwand, um sich eine weitere Woche lang zu besaufen. Dafür hatte Cándido jetzt Geld, und er kaufte América Sachen, versuchte sie damit aufzuheitern, kleine Leckerbissen aus dem Laden, Weißbrot und Ölsardinen, und auch die Rücklagen für die Wohnung in der kleinen Erdnußbutterdose aus Plastik wurden wieder mehr. Zwei Wochen verstrichen. Arbeit gab es keine. La Migra, so ging das Gerücht, hatte direkt vor dem Postamt sechs Männer aufgegriffen, und sie waren in einem schwarzen, unscheinbaren Zivilauto gekommen, nicht in einem der kotzegrünen Transporter, die man aus einem Kilometer Entfernung erkannte. Cándido hielt sich eine Zeitlang von dort fern. Er griff auf das Geld zurück, das er verdient hatte. América war wie eine Fremde, und sie wurde jeden Tag dicker, so dick, daß er glaubte, sie müsse platzen, und sie aß alles, was er ihr brachte, und wollte immer noch mehr.
    Er stieg wieder den Abhang hinauf. Stellte sich vor dem Postamt auf und schwitzte aus Angst vor der Polizei. Wo war nur Señor Willis? Sicher war er gestorben. Er schlief in seinem Auto, weil ihm seine Frau so auf die Nerven ging, daß er sie nicht aushielt, trank aus der einen Flasche und pißte in die andere, und das mit sechsundsiebzig und einer kaputten Hüfte und einem kranken Herzen, wer hielt denn so etwas aus? Er war tot. Ganz bestimmt. Aber dann, eines hoffnungslosen, vom Wind versengten Nachmittags, war der Corvair plötzlich wieder da, glitt die Straße entlang wie eine Fata Morgana, und dann saß Señor Willis, mit einem blauen Auge, das so zugeschwollen war, daß es aussah, als klebte etwas Künstliches in seinem Gesicht, ein Scherzartikel aus Gummi oder so. »He, muchacho «, sagte er, »wir haben Arbeit. Steig ein.«
    Drei Tage lang diesmal. Neue Tore mit Schnappschloß in einen alten Eisenzaun um einen Swimmingpool einsetzen und anschließend die Zaunkrone erneuern. Dann war Señor Willis wieder betrunken, und dann gab es wieder einen Job, und jetzt, jetzt da sie fast fünfhundert Dollar in der Spardose hatten, stand Arbeit für einen ganzen Monat in Aussicht, ein riesengroßer Auftrag, sie sollten für ein junges Ehepaar in Tarzana einen Anbau zum Wohnzimmer errichten, und das war doch hervorragend. América müßte eigentlich vor Freude Luftsprünge machen. Nicht mehr lange, und sie konnten hier weg, in eine richtige Wohnung. Señor Willis würde vorbeikommen und an die Tür klopfen, und Cándido würde ihm öffnen und in den Corvair steigen, ohne Angst haben zu müssen, daß ihn La Migra auf der Straße verhaftete. Aber América machte keine Luftsprünge. Sie sprang überhaupt nicht. Sie bewegte sich nicht einmal. Sie saß einfach stumm am Rand des kläglichen Bachs und des versiegenden Tümpels, aufgedunsen, fett und reglos.
    Cándido stieg den Berg hinauf. Er machte sich Sorgen, immer die Sorgen, aber das Leben hatte eben seine Höhen und Tiefen, und momentan ging es

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