América
hatte sie wieder enttäuscht. Aber trotzdem mußten sie das Beste daraus machen, mußten irgendwie weiterleben, sah sie das denn nicht ein?
Das tat sie nicht. In den ersten Tagen saß sie einfach nur da, reglos, in katatonischer Starre. Er war tagsüber unterwegs, um Essen und Arbeit aufzutreiben am Straßenrand, nach rostigen Dosen zu suchen, für die er eine Handvoll Kleingeld bekam, und wenn er zurückkehrte, egal ob nach zwei Stunden oder nach sechs oder acht, saß sie immer noch da, wo er sie verlassen hatte, manchmal sogar in genau derselben Haltung. Sie sprach kein Wort mit ihm. Sie weigerte sich zu kochen. Sie hörte auf, sich zu waschen, ihre Haare verfilzten, und nach einer Woche stank sie am ganzen Körper wie ein Obdachloser, wie ein wildes Tier, wie ein Leichnam. Ihre Blicke durchbohrten ihn. Allmählich glaubte er, sie zu hassen.
Dann lernte er Señor Willis kennen. Es war reiner Zufall, Glück statt Pech. In den ersten zwei Wochen nach der idiotischen Geschichte in Canoga Park hatte er ein paarmal Arbeit gefunden, hatte vor dem Postamt mit einer Gruppe anderer Männer herumgestanden, viel weniger waren es inzwischen, immer auf der Hut vor der Einwanderungsbehörde und irgendwelchen wildgewordenen gabachos - ja, es war riskant, aber hatte er eine Wahl? Die Arbeitsvermittlung war verschwunden. Jemand hatte an der Stelle ein paar Pfefferbäume gepflanzt, dünne Stämmchen von gut zwei Meter Höhe mit einem Büschel Laub oben drauf, ein schwarzer Plastikschlauch verband die Pflanzen wie eine Rettungsleine. Das war aus der Arbeitsvermittlung geworden: ein paar Bäumchen auf sonnenverbrannter Erde. Und so versuchte er sein Glück vor dem Postamt, bei jedem Auto stockte ihm der Atem - ein Job oder eine Razzia? -, und eines heißen, knochentrockenen Mittags, so gegen zwei Uhr etwa, kroch ein verbeulter alter Chevrolet Corvair auf den Parkplatz wie ein arthritischer Vogel. Der Fahrer war in ähnlicher Verfassung wie sein Auto, ein alter weißer Mann mit eingefallener Brust und Schildkrötenhaut an den Armen, weiße Härchen wuchsen ihm aus Nase und Ohren. Er saß einfach nur da, musterte Cándido aus seinen alten, wäßrigen graublauen Augen, die von den Gläsern der Brille derart verzerrt wurden, daß sie gar nicht mehr wie Augen aussahen, sondern wie Münder, wie zwei klaffende, irre, weit aufgerissene graublaue Münder. Er war betrunken. Das sah man auf zehn Meter Entfernung. »He, muchacho !« rief er durch das Beifahrerfenster, in dessen Rahmen wie vereinzelte Zähne die Reste der zerbrochenen Scheibe steckten. »¿Quieres trabajar?«
Es war ein Scherz. Es mußte einer sein. Anscheinend schickten sie jetzt die alten gabachos aus den Pflegeheimen los, um ehrliche Männer auf Arbeitssuche zu verhöhnen, so war es, Cándido war sich sicher, und vor Wut und Haß biß er die Zähne zusammen. Er rührte keinen Muskel. Stand nur stocksteif da.
»Muchacho«, sagte der Alte nach einer Weile, und der Wind, der unermüdliche Santa-Ana-Wind überlagerte seine Stimme, bis sie kaum mehr zu hören war, »¿qué pasa? ¿Eres sordo? Bist du taub? Ich hab dich gefragt, ob du Arbeit willst?«
Das Auto spotzte und furzte aus dem schadhaften Auspuff. Der Wind pfiff. Die Augenmünder des alten Mannes zwinkerten. Was soll's, sagte sich Cándido, was hab ich schon zu verlieren? und ging um das Auto herum zur Fahrerseite, um sich zum Fenster hinunterzubeugen. »Was für eine Arbeit?« fragte er auf spanisch.
Auf dem Sitz neben dem Alten lag eine Flasche - nein, zwei Flaschen, die eine voll Wodka, mit einem roten Etikett und einer klaren Flüssigkeit, die andere mit dem gleichen Etikett, aber die gelbliche Brühe darin war Urin, wie Cándido später erfuhr. Der Alte stank. Als er den Mund öffnete, um zu lächeln, waren nur drei Zähne zu sehen, zwei unten und einer oben. »Auf 'ner Baustelle«, sagte er. »Fliesenlegen und so. Du hast einen kräftigen Rücken, du kannst für mich arbeiten - keine Faxen, acht Scheine die Stunde.«
Acht Dollar? Machte er sich lustig? Es war ein Witz, es mußte ein Witz sein.
»Steig schon ein«, sagte der Alte, und Cándido ging wieder auf die Beifahrerseite, nichts zu verlieren, riß die Tür auf - sie klemmte - und rutschte auf den Sitz neben die beiden verschraubten Flaschen, die klare und die gelbliche.
Das war also Señor Willis, und Señor Willis erwies sich als Überraschung, als echte Überraschung, die beste, die Cándido widerfahren war, seit er mit seiner siebzehnjährigen Braut
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