América
wieder aufwärts, das war klar. Im Geist schmiedete er Pläne, und als er jetzt an dem großen vorspringenden Felsen vorbeikam, wo er damals diesem Halbgringo mit der verkehrt herum aufgesetzten Mütze begegnet war, da weigerte er sich, an den Dreckskerl auch nur zu denken. An diesem Tag gab es keine Arbeit, und am nächsten auch nicht. Es war Feiertag, hatte Señor Willis ihm erklärt, ein verlängertes Wochenende, und mit der neuen Arbeit, dem Großauftrag, würden sie am Montag anfangen. Welcher Feiertag war es doch gleich? Thanksgiving, hatte Señor Willis gesagt, el Día de las Gracias, El Tenksgivih.
Aber das war schon in Ordnung. Cándido hätte zwar lieber gearbeitet, um die Kaution für die Wohnung zu verdienen, irgendeine Wohnung, egal wo, und seine Frau aus diesem Loch zu holen, aber solange er vierundsechzig Dollar am Tag verdiente, konnte das auch noch eine Woche warten - jedenfalls hoffte er das. América war bald fällig, sie sah aus wie ein gegrilltes Würstchen kurz vor dem Platzen. Aber er konnte nichts tun - sicher, er hatte sich in aller Frühe beim Postamt aufgestellt, aber niemand war gekommen, kein Mensch, als wäre der Cañon auf einmal entvölkert -, und jetzt, um drei Uhr nachmittags, stieg er den Berg hinauf, zum Einkaufen. Er brauchte Reis, Tomaten in der Dose, zwei Liter Milch im Tetrapack für seine Frau, und vielleicht ein Bier oder zwei, ein Budweiser oder ein Pabst Blue Ribbon, in dieser großen braunen Literflasche, für El Tenksgivih.
Er behielt die Straße im Blick. La Migra würde heute wohl kaum arbeiten, nicht an El Tenksgivih, diese faulen, vollgefressenen Mistkerle, aber genau wußte man es nie: es sähe ihnen ähnlich, daß sie zupackten, wenn man am wenigsten damit rechnete. Viel Verkehr war nicht - etwas mehr als am Morgen, aber dennoch kein Vergleich mit einem normalen Arbeitstag. Cándido überquerte die Straße - Vorsicht, Vorsicht! -, bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth von Einkaufswagen und chaotisch geparkten Autos auf dem Parkplatz und betrat den Laden des paisano, wo er gleich beim Eingang einen roten Plastikkorb ergriff.
Das Geschäft war wie immer, unverändert, ihm inzwischen so vertraut wie der Markt in seinem Heimatdorf, aber noch immer fehlte jeder Geruch nach Essen, irgendein flüchtiger Duft, so als ob das Aroma von Fleisch oder Käse oder auch nur das von gutem, frischem Sägemehl irgendwie obszön wäre. Das Licht wirkte wie tot. Die Kunden waren die gleichen wie sonst, dieselben bläßlichen Gesichter, die ihn unverhohlen mit derselben Mischung aus Verachtung und Abscheu anstarrten. Oder nein, sie waren doch nicht wie sonst, nicht ganz: heute hatten sie sich alle fein angezogen für El Tenksgivih. Cándido wanderte durch den Gang mit den Gemüsedosen, wollte sich den Kühlschrank bis zum Schluß aufsparen, damit das Bier bis zum letztmöglichen Moment kalt blieb - und er würde auch ganz nach hinten hineingreifen, um die am längsten gekühlten Flaschen herauszuholen. Es roch nach Zellophan, Fichtennadelbad, Deodorant.
Beim Bier dachte er lange nach, stand vor der beschlagenen Kühlschranktür und verglich die Preise. Die braunen Flaschen waren von hinten erleuchtet, so daß sie einladend schimmerten, und er dachte: Eine? Oder zwei? América würde nichts trinken, es war schlecht für das Baby, und wenn sie Bier tränke, könnte sie ja außerdem vergessen, wie unversöhnlich wütend sie auf ihn war und ihn womöglich sogar anlächeln. Nein, sie würde nichts trinken - und eines würde ihn nur kribblig machen, wie kleine tastende Finger, die in seinem Schädel wühlten und die kaputte Seite seines Gesichts massierten, zwei aber wären großartig, zwei wären ein Erntedankfest. Er öffnete den Kühlschrank und ließ sich kurz die kalte Luft ins Gesicht wehen, dann griff er tief hinein und wählte zwei große Literflaschen Budweiser, den König unter den Bieren.
Bei der Kasse dachte er an gar nichts, sein Gesicht eine Maske, im Geiste war er in Tepoztlán, sah die felsigen cerros hoch über der Stadt aufragen, die glitzernden Regentropfen, die auf allen Blättern schimmerten, die Felder, auf denen der Mais reifte, und bald würde der trockene Winter einsetzen, die beste aller Jahreszeiten, und er achtete nicht auf die Gringos in der Schlange vor ihm, zwei lärmende Männer, die bereits am Feiern waren, mit grellbunten, am Hals offenen Hemden und Jacken, die an den Schultern spannten. »Truthahn?« rief einer in ihrer Sprache, und in seiner Stimme
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