América
vorgenommen hatte, es auch zu kriegen. »Du wirst mir von dem Geld eine Busfahrkarte kaufen«, sagte sie. »Ich will nach Hause, und mir ist egal, ob du mitkommst oder nicht. Mir reicht's. Ich habe genug. Wenn du glaubst, daß ich meine Tochter wie ein wildes Tier erziehen werde, ohne Kleider, ohne Familie, ja nicht mal mit einer ordentlichen Taufe, dann bist du verrückt. Dich suchen sie, nicht mich. Du bist an allem schuld.«
Sie hatte recht, natürlich hatte sie recht, und er spürte bereits die Leere, die ihr Fortgehen hinterlassen würde, wie etwas, das direkt aus seinem Körper geschnitten wurde, das Herz oder der Verstand, ein Verlust, den kein Mann überleben konnte. Er würde sie nicht gehen lassen. Und wenn er sie umbringen mußte und das Baby auch - und anschließend würde er sich die eigene wertlose Kehle durchschneiden. »Wir haben kein Geld«, sagte er.
Er sah, wie ihre Lippen sich verzerrten. »Das ist gelogen.«
Wortlos und mit einer Brutalität, für die er sich selber haßte, holte er den geschmolzenen Plastikklumpen aus der Tasche und warf ihn auf den Teppich. Keiner sprach ein Wort. So lagen sie lange reglos unter der grünen Platte des Daches und starrten die kleine Kugel aus Plastik mit den darin gefangenen Münzen an. »Da ist dein Geld für den Bus«, sagte er schließlich.
Sie hatte ihr Baby, und jede Zelle und jedes Haar der Kleinen war ein Wunder, sie hatte sie zustande gebracht, auch wenn ihr Vater sagte, sie sei dumm, und ihre Mutter sie tolpatschig, faul und unzuverlässig nannte - es war ihre Schöpfung, bezaubernd und unleugbar. Aber vor wem konnte sie damit angeben? Wer sollte ihre Socorro bewundern, diese nordamerikanische Schönheit, die im Land des Überflusses mit nichts geboren war? In den ersten Tagen war sie zu glücklich und zu müde gewesen, um sich Sorgen zu machen. Sie war in einer Hütte, schon wieder in einer Hütte, versteckt wie ein Hase in seinem Bau, aber sie war am Leben, dank Cándidos Beherztheit und seinem raschen Handeln, und sie hatte ihre Tochter an der Brust, und Cándido hatte sie entbunden. Damals war das genug gewesen. Es war alles, was sie zu wissen brauchte. Aber wenn Cándido auf Beutezug war - eines Nachts fand er auf einer Wäscheleine eine Decke, dann ein Badehandtuch, um das Baby einzuwickeln - oder in den Büschen gegenüber dem Postamt zusammengekauert auf Señor Willis' Wagen wartete, der aber nie kam, geriet sie ins Grübeln, und je mehr sie grübelte, desto mehr Sorgen machte sie sich.
Das war nicht einfach Pech, das war eine fortwährende Katastrophe, und wie lange konnten sie das überstehen? Cándido war der beste Mann der Welt, liebevoll und gütig, kannte die Bedeutung des Wortes »faul« nicht einmal, doch alles, was er anpackte, ging schief. Es gab kein Leben für sie hier, kein Häuschen, kein Badezimmer mit blinkenden Wasserhähnen und einer hellweißen Kommode wie damals in der staunenerregenden großen Villa des dicken Mannes. Es war Zeit zum Aufgeben, Zeit, nach Tepoztlán zurückzufahren und ihren Vater zu bitten, sie wieder aufzunehmen. Sie hatte jetzt eine Tochter, ihre Tochter war Amerikanerin, eine Bürgerin von Los Estados Unidos, und wenn sie groß war, konnte sie zurückkehren und ihr Geburtsrecht einfordern. Allerdings, wer würde es ihr glauben? Mußte man nicht die Geburt im Dorf oder in der Kirche eintragen lassen? Aber in welchem Dorf, in welcher Kirche?
»Cándido, was ist mit der Kleinen?« begann sie eines Abends, als sie vor dem Herd saßen, den er aus Fertigsteinen konstruiert hatte, und Hölzchen ins Feuer warfen, während im Topf das Wasser kochte. Es regnete, ein leises, unbeständiges Prasseln auf dem Plastikdach, und sie lag gemütlich in die Decke gewickelt auf den Säcken mit Grassamen. Cándido war den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte den Straßenrand nach Dosen und Flaschen abgesucht, für die er in dem Automaten vor dem Chinesenladen ein paar Münzen bekam, und er hatte Zucker, Kaffee und Reis mitgebracht.
»Was soll mit ihr sein?« fragte er.
»Wir müssen ihre Geburt vom Pfarrer registrieren lassen - sie ist hier geboren, aber woher soll man das später wissen?«
Er kauerte stumm auf dem Boden und zerbrach Zweige für das Feuer. Es war ihm gelungen, ihren Unterschlupf bequem für sie zu gestalten, das mußte sie ihm lassen. Die Schlitze zwischen den Palettenbrettern waren mit Stoffetzen und Zeitungen verstopft, so daß der Wind nicht durchkam, und mit dem Feuer wurde ihr selbst an den
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