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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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heimische Fischwelt wie Popcorn. Und alles nur, weil ein kurzsichtiger Enthusiast gemeint hatte, sie würden in einem Aquarium hübsch aussehen.
    Aber hier gab es keine Welse, weder wandernde noch andere. Es regnete, das Wasser lief in schmalen gelblichen Zöpfen in die Gräben. Immer wieder suchte Delaney das Gebüsch am Fuß der Mauer mit seinem Nachtsichtfeldstecher ab. Die Graffiti waren unverzüglich von der Wartungsfirma übermalt worden - das war das beste, sagten alle, um die Schmierer zu frustrieren -, und so bewachte Delaney eine blanke Wand, eine Tabula rasa, die diesem Mistkerl mit den komischen Augen und der verkehrt herum aufgesetzten Mütze ein Dorn im Auge und auch ein Ansporn sein mußte, und er sah, wie das Schild mit der Aufschrift Arroyo Blanco Estates aufleuchtete, ebenso die Weihnachtslichter über dem Tor, die roten und grünen Lämpchen, die im Regen grell vor der kahlen Mauer blinkten. Es machte ihm nichts aus. Es war sein Kreuzzug, seine Vendetta.
    Dann ließ er einen Abend aus - eine klare, kalte, smogfreie Nacht gleich nach der zweiten Unwetterperiode -, um mit Kyra essen und danach ins Kino zu gehen. Gegen Mitternacht kamen sie zurück, die Mauer war unberührt, aber als Delaney vor dem Schrank stand, um sich Thermowäsche, Jeans und Anorak anzuziehen, trat Kyra im Nachthemd aus dem Badezimmer, und er vergaß alle Wachsamkeit. Am nächsten Morgen war die Mauer immer noch frei von Schmierereien, aber beide Kameras hatten ausgelöst. Vermutlich Coyoten, dachte er, während er mit den Filmen zu den Cherrystones ging, aber immerhin bestand ja die Möglichkeit, daß die Mexikaner zurückgekommen und von dem Blitzlicht verscheucht worden waren - in diesem Fall würde er sie wohl nicht mehr erwischen. Sie kämen bestimmt nicht wieder. Er hatte es verpatzt. Seine einzige Chance, und er verpatzte es. Aber wahrscheinlich war es doch nur ein Coyote gewesen. oder ein Waschbär.
    Jack war in einem Tonstudio in Burbank, aber Selda ließ Delaney ein. Sie kam gerade vom Friseur - ihr Haar hatte eine erstaunliche Farbe, wie ein Hermelin im Winterpelz, bis hin zu den Blauschattierungen -, trank aus einer großen Tasse Kaffee und raunte Vertraulichkeiten in ihr schnurloses Telefon. »Hast du irgendwas erwischt?« fragte sie und legte dabei die Hand über das Mundstück.
    Delaney wurde verlegen. Nur die Cherrystones und Kyra wußten, was er tat, aber in gewissem Sinne baute die ganze Wohnanlage auf ihn - vielleicht kampierten dort draußen im Gestrüpp an die zehntausend Mexikaner und warteten darauf, den Cañyon abzufackeln, aber wenigstens diese zwei sollten ein einfaches Ticket nach Tijuana bekommen. Falls er es nicht verpatzt hatte. Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht.«
    Jacks Dunkelkammer war ein umgebautes kleines Bad gleich neben seinem Zimmer, sie war sehr eng und schlecht belüftet. Delaney orientierte sich, knipste den Ventilator an, suchte alles zusammen, was er brauchte, schloß die Tür und schaltete die rote Lampe ein. Er vertiefte sich so stark in die Abläufe von Entwickeln und Fixieren, daß er fast vergessen hatte, wonach er suchte, als er das Wasser von dem sich einrollenden feuchten Film abstreifte und ihn vor die Lampe hob.
    Das Gesicht, das ihm aus dem Bild entgegenstarrte, erschrocken und starr im grellen Licht wie das eines Opossums, war menschlich, es war auch mexikanisch, aber es war nicht das Gesicht, das er erwartet hatte. Er hatte mit den kalten harten Augen und dem kantigen Kinn des Graffitikünstlers mit dem schlechten Gebiß, mit dem Baseballmützen-Eindringling, dem Feuerteufel gerechnet, endlich ertappt, hier der Beweis, doch dieses Gesicht war seinen schlimmsten Alpträumen entstiegen - wie konnte er diesen silbergesprenkelten Schnurrbart je vergessen, den eingedrückten Backenknochen und das Blut auf einem Zwanzigdollarschein?

6
    América stillte ihr Baby, und Cándido baute sein Haus. Es war ein provisorisches Haus, ein Unterschlupf, ein Platz, an dem sie vor dem Regen geschützt waren und abwarten konnten, bis er Arbeit fand und sie wieder wie menschliche Wesen leben konnten. Das Geld - die Ersparnisse für die Wohnung in der Erdnußbutterdose - half ihnen nicht weiter. Es waren nur vier Dollar siebenunddreißig in Münzen, die mit einem harten, formlosen Plastikklumpen verschmolzen waren. Cándido hatte drei Tage gewartet und sich dann, im Schutz der Nacht, durch das Gestrüpp, über die Straße und in den verwüsteten Cañon hinab geschlichen. Der Halbmond, ein

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