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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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kältesten Tagen warm. Sogar für fließendes Wasser war gesorgt: Cándido hatte eine ganze Nacht lang den Hang hinauf einen Graben gezogen, das Bewässerungssystem der Wohnanlage angezapft, Plastikrohre abgesägt und miteinander verbunden und dann in dem Graben bis zu ihrem kleinen unsichtbaren Haus hinauf verlegt, und danach hatte er alles wieder zugeschüttet und seine Spuren so gut verwischt, daß niemand je etwas merken würde. »Von welchem Pfarrer?« fragte er schließlich.
    Sie zuckte die Achseln. Socorro lag schlafend an ihrer Brust. »Ich weiß nicht - vom Dorfpfarrer.«
    »In welchem Dorf?«
    »Ich will nach Hause. Ich hasse diesen Ort. Ich hasse ihn.«
    Cándido schwieg einen Augenblick, sein Gesicht sah aus wie eine vertrocknete Frucht. »Wir könnten noch einmal nach Canoga Park gehen, wenn du glaubst, daß du es schaffst«, sagte er dann. »Da gibt's bestimmt einen Pfarrer. Der weiß vielleicht, was zu tun ist. Wenigstens könnte er sie taufen.«
    Nach ihrer letzten Erfahrung schrak sie vor dem Gedanken zurück, aber allein der Name - Canoga Park - ließ sie an die vielen Geschäfte denken, an die Frauen auf der Straße, das kleine Restaurant, das wie ein Café zu Hause gewesen war. Irgend jemand dort würde wissen, was zu tun war, irgendwer würde helfen. »Es ist schrecklich weit«, sagte sie.
    Er schwieg. Er starrte ins Feuer, die Lippen vorgeschoben, die Hände im Schoß gefaltet.
    »Was hast du mit der Schnur gemacht?« fragte sie nach einer Weile.
    »Mit welcher Schnur?«
    »Mit der Nabelschnur. Von unserem Baby.«
    »Hab sie vergraben. Zusammen mit dem Rest. Was willst du damit?«
    »Ich wollte die Nabelschnur behalten. Für Chalma. Ich wollte eine Wallfahrt machen und sie an den Baum neben der Kirche hängen und zur Jungfrau Maria beten, damit sie Socorro ein langes glückliches Leben schenkt.« Und sie sah den Baum vor sich, den großen, uralten Ahuehuetebaum neben der Straße, umringt von Massen von Pilgern und den Händlern, behängt mit Hunderten und aber Hunderten von getrockneten Nabelschnüren, die wie Luftschlangen von den Ästen baumelten. Socorro würde diesen Baum niemals sehen; sie würde nie gesegnet werden. América mußte tief durchatmen, um nicht vor lauter Hoffnungslosigkeit zu schluchzen. »Ich hasse es hier«, flüsterte sie. »Mein Gott, wie ich es hasse.«
    Cándido antwortete nicht. Er machte Kaffee mit Zucker und Kondensmilch, und sie tranken ihn aus alten frijoles- Dosen, und dann schnitt er eine Zwiebel, ein paar Chilis und eine Tomate, kochte den Reis, und sie stand nicht auf, um ihm zu helfen, obwohl er versuchte, sie dazu zu zwingen.
    Es regnete auch den nächsten Tag, ohne Unterlaß, und als sie hinausging, um zu pinkeln und die Windel des Babys zu vergraben, war die Erde wie Leim. So lange war sie Pulver gewesen, und jetzt war sie Leim. Sie stand im Regen, blickte auf den nebelverhangenen Cañon hinunter, die Dächer der Häuser, die kahle Narbe von Cándidos Feuer, und der Regen roch gut, er roch nach Erlösung und Befreiung - ein ganz klein wenig roch er nach zu Hause. Sie mußte hier weg, auch wenn das hieß, Socorro warm einzuwickeln und den ganzen weiten Weg bis zur Grenze zu Fuß zu gehen, und wenn sie dabei verhungerte, dann war es Gottes Wille.
    In der Hütte war es dunkel, so dunkel wie in einem Erdloch, und als es nur noch nieselte, trug sie das Baby zum Luftschnappen nach draußen. Wie sie hoch oben auf dem Hügel saß und den Wolken zusah, die über den Cañon aufs Meer hinauswehten, und den Autos, die wie Spielzeug die schimmernde Straße hinaufkrochen, fühlte sie sich besser. Dies war Amerika, und es war schön hier, trockener und heißer als Tepoztlán in der heißen Jahreszeit, und in der Regenzeit kälter, aber sie spürte, daß es hier Frieden gab, wenn sie ihn nur finden konnte. Frieden und auch Wohlstand.
    Sie blickte ihrer Tochter ins Gesicht, aber das Baby starrte an ihr vorbei, nach oben und in eine Ferne, die sie niemals erfassen konnte, und in diesem Moment fühlte América, wie sie die nackten, scharfen Klauen der Angst packten. Sie fuhr ihrer Tochter mit der Hand übers Gesicht, doch Socorro reagierte nicht. Dann beugte sie das eigene Gesicht über das der Tochter, sah tief in die beiden stumpfen schwarzen Augen, aber sie starrten nur ins Leere, als wäre eine Wand zwischen ihnen. Und dann zwinkerte das Baby, es nieste, und ihre Augen blickten ins Nichts.
    Cándido erzählte ihr, daß sie Kaninchen äßen, aber Kaninchen waren schwer zu

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