América
fangen. Diese anderen Vierbeiner mit den Glöckchen am Halsband, um die Vögel zu warnen, die waren leichter zu fangen. Man brauchte einfach nur bis Mitternacht zu warten, sich über die Mauer zu stehlen und leise »Komm, Miez, Miez komm!« zu rufen. Also aßen sie Fleisch, auch wenn es sehnig und säuerlich schmeckte, und sie aßen Hundeplätzchen, Reis und das bißchen Obst und Gemüse, das er zu entwenden wagte. Sie hatten Wasser, sie hatten es warm, und sie hatten ein Dach über dem Kopf. Aber es war nur ein Notbehelf, ein Zeitgewinn, ein Hinausschieben des Unvermeidlichen. Er hatte schon so lange aus dem Gebüsch auf das Stück Straße vor dem Postamt gestarrt und auf das Erscheinen von Señor Willis' Corvair gewartet, daß der Platz für ihn nicht mehr wirklich war, sondern eine Szene, die er nur in seinem Gehirn entworfen hatte - einmal blinzeln, und er würde verschwinden. Braceros waren keine mehr da, kein einziger, es mußte sich wohl herumgesprochen haben. Cándido wagte nicht, sich zu zeigen, aber wenn er sich nicht zeigte, wie sollte er dann Arbeit finden? Und wenn er keine Arbeit fand, dann würden sie früher oder später verhungern, ganz egal wieviel er aus den Gärten hinter der Mauer mitnahm oder wie viele Dosen er am Straßenrand sammelte. Wenn er Señor Willis nur anrufen könnte, aber Señor Willis hatte kein Telefon. Er konnte wieder nach Canoga Park gehen, aber dort gab es auch keine Arbeit, das wußte er, nur Hunderte Männer, die bereit waren, einander für jeden x-beliebigen Job umzubringen. Ein bißchen Geld, mehr brauchte er nicht - mit ein bißchen Geld könnten sie an die Heimfahrt nach Tepoztlán denken, wenigstens über den Winter.
Seine Tante würde sie vielleicht aufnehmen, und er könnte wieder Holzkohle machen, aber América - er hatte vor ihr geprahlt, hatte ihr so viel versprochen -, América würde ihn bestimmt verlassen, sich im Haus ihres Vaters einsperren, wo sie den Boden schrubben mußte, bis sie eine alte Vettel war, und wo sie Socorro mit einem verfluchten chingado verheiraten würden, dem ihr Vater noch Geld schuldete.
Cándido ging das Risiko ein. Er wartete, bis der Regen aufs Pflaster prasselte und ihm die Haare klatschnaß in der Stirn klebten, dann trat er aus den Büschen, überquerte die Straße und stellte sich unter einen Erkervorsprung am Postamt, stampfte mit den Füßen und schlug sich auf die Schultern, um seinen Kreislauf in Gang zu halten. Bestimmt würde sich jemand seiner erbarmen und ihn zu sich mit nach Hause nehmen, um ihn in einem warmen Keller arbeiten zu lassen, eine Trennwand aufstellen oder etwas anstreichen oder entrümpeln. So wartete er, völlig durchnäßt und zitternd, und alle Gringos, die aus ihren Autos stiegen und ins Postamt hasteten, warfen ihm Blicke voll unstillbarem Haß zu. Wenn sie nicht wußten, daß er das Feuer gelegt hatte, so ahnten es doch alle, und wo einst Toleranz und menschlicher Respekt geherrscht hatte, waren jetzt nur noch Groll und Befangenheit. Niemand stellte ihn an, ließ ihn sich aufwärmen oder gönnte ihm Essen, Kleider und einen Platz zum Schlafen, der besser war als ein Straßengraben oder eine Baracke irgendwo im Gestrüpp - sie wollten ihn am liebsten tot sehen. Oder nein: sie wollten ihn gar nicht sehen. Er wartete den ganzen Nachmittag, und als er die Kälte nicht mehr aushielt, ging er in die Eingangshalle des Postamts, eines öffentlichen Gebäudes, und sofort trat ein Mann in blauer Uniform hinter dem Schalter hervor und befahl ihm zu verschwinden, auf spanisch.
América war seltsam an diesem Abend. Er schmiegte sich an sie, versuchte das Zittern abzustellen, und sie sprach nicht vom Nachhausefahren, kein einziges Mal, obwohl sie ihn die letzten zwei Wochen halb wahnsinnig damit gemacht hatte. Jetzt ging es um das Baby - sie konnte von nichts anderem reden. Das Baby mußte in eine Klinik, das Baby brauchte einen Doktor - einen Gringodoktor -, der es untersuchte. Aber ist die Kleine denn krank? wollte er wissen. Sie sieht doch ganz gesund aus. Nein, sagte América gepreßt, nein, sie ist nicht krank, aber wir müssen sie trotzdem vom Arzt untersuchen lassen - für alle Fälle. Aber wie sollen wir diesen Doktor finden, wie ihn bezahlen? Er war gereizt, fühlte sich genervt, ausgepreßt. Sie wußte es nicht. Es war ihr egal. Aber das Baby brauchte einen Doktor.
Am Morgen stellte Cándido einen Topf mit Regenwasser auf den Rost - er hatte zwar PVC-Rohre vom Bewässerungssystem der Anlage nach oben
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