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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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verlegt, das war ein Kinderspiel gewesen, er hatte ja die Säge und den Hammer, und im Schuppen lagen Muffen und Winkelstücke, er brauchte sie sich nur zu nehmen, aber er zapfte es nur an, wenn es sein mußte -, dann schlitterte er den schlammigen Hang hinab, immer geduckt und in Deckung, und ging zurück zum Postamt. Es war bedeckt, und von den Bergen blies ein kalter Wind herunter, aber seit Tagesanbruch regnete es nicht mehr, und das war eine Erleichterung. Cándido lehnte an der Ziegelfront des Gebäudes, sah den Regenwürmern zu, die aus der triefnassen Erde gekrochen kamen, um auf dem Asphalt zu sterben, und versuchte sein Bestes, um beflissen und harmlos auf all die Gringos und Gringas zu wirken, die mit Weihnachtspäckchen im Arm durch die Türen des Postamts hetzten. Er konnte den Bach hören, der hinter dem Gebäude durch eine Bresche im Fels strömte, bevor er unter der Brücke hindurchschoß und in den Einschnitt der Schlucht stürzte. Es war ein finsteres Geräusch, ein Zischen, das sich zu einem Brausen steigerte und wieder leiser wurde, wenn ein verkrüppelter Baum oder ein mitgerissener Fels im Bachbett an irgendeinem Hindernis hängenblieb. Sie wären glatt überschwemmt worden, wenn sie noch da unten kampierten, es hätte sie den Cañon hinuntergespült wie in einem Klosett, sie wären gegen die Felsen geprallt und letztlich ins Meer getragen worden, wo sie die Krebse aufgefressen hätten. Daran dachte er, während er zusah, wie sich die Regenwürmer auf der Straße wanden und wie die Postkunden vorsichtig über die Pfützen stakten, als wäre es die größte Tragödie, sich die Schuhe schmutzig zu machen, und er fragte sich, ob nicht das Feuer insgeheim ein Segen gewesen war. Vielleicht hatte die Vorsehung ja doch ein Auge auf ihn.
    Der Gedanke munterte ihn auf. Auf einmal grinste er die Leute an, die ein- und ausgingen, strich sich mit den Fingern den Schnurrbart glatt und entblößte seine Zähne. »Arbeit?« fragte er eine Frau, die auf ihren Stöckelschuhen balancierte wie eine Turnerin, doch sie wandte sich ab, als wäre er unsichtbar, als hätte nur der Wind zu ihr gesprochen. Aber er ließ nicht locker, sein Lächeln wurde zunehmend verzweifelt, bis der Mann in der blauen Uniform - derselbe wie am Vortag, ein gabacho mit Pferdeschwanz und türkisgrünen Augen - herauskam und ihm in Schulbuchspanisch sagte, er müsse hier weggehen, wenn er nichts in der Post zu tun habe. Cándido zuckte die Achseln, immer noch grinsend - er konnte es nicht abstellen, es war wie ein Reflex. »Es tut mir leid, wenn ich jemanden störe«, sagte er voll Erleichterung, sich erklären zu können, in seiner eigenen Sprache zu sprechen, und er dachte, daß dies vielleicht die lang ersehnte Chance war, daß dieser Mann vielleicht ein zweiter Señor Willis war, »aber ich brauche Arbeit, damit ich für meine Frau und mein Kind etwas zu essen kaufen kann, und ich wollte fragen, ob Sie vielleicht irgend etwas wissen?«
    Der Mann sah ihn jetzt an, sah ihn wirklich an, aber er sagte nur: »Das hier ist kein guter Platz für Sie.«
    Niedergeschlagen überquerte Cándido die Straße und schlurfte über die Brücke in Richtung des chinesischen Supermarkts und der Holzhandlung dahinter. Die Brücke war ihm früher kaum aufgefallen - sie war nur ein Stück Straße, die über das tote Gestrüpp des Bachbetts hinwegführte -, heute aber offenbarte sich ihm ihr Zweck, denn das brodelnde gelbe Wasser brandete jetzt gegen die Betonpfeiler, und die Felsblöcke donnerten mit einem Krachen dagegen, als knirschte die Erde mit den Backenzähnen - den ganzen Sommer und Herbst über hatte es kein Wasser gegeben, und nun auf einmal so viel davon. Cándido stand eine Zeitlang vor dem Chinesenladen, auch wenn er kein gutes Gefühl dabei hatte, und tatsächlich trat auch gleich der alte Chinese mit den dicken Brillengläsern und den Hosenträgern, die sein Beinkleid über den knochigen Hüften hielten, vor das Geschäft und verscheuchte ihn in seiner komischen Sprache mit den Auf-und-ab-Tönen. Aber Cándido wollte nicht aufgeben, und so stellte er sich gegenüber der Holzhandlung auf in der Hoffnung, daß irgendein Bauunternehmer ihn dort nach dem Einkauf von Material sehen und ihm Arbeit geben würde. Es war keine besonders gute Stelle, schon in den besseren Zeiten nicht, und Cándido hatte hier noch nie einen einzigen bracero herumlungern sehen. Es ging das Gerücht, daß der Eigentümer der Holzhandlung sofort die Polizei holte, wenn er

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