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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Kyra, sollte sie nicht längst zu Hause sein? Zuerst aber der Film, und dann vielleicht noch etwas essen. Bei Jack und Selda war das Licht aus gewesen, als er eben auf der Straße vorbeigegangen war, aber er wußte, wo sie ihren Reserveschlüssel versteckten, unter dem dritten Blumentopf rechts neben der Hintertür, und er war sicher, daß sie nichts dagegen hätten, wenn er kurz ihre Dunkelkammer benutzte - er mußte diese Fotos haben, er mußte den Kerl mit der Spraydose in der Hand überführen, ihn auf frischer Tat ertappen. Das andere Foto, das erste damals, war schon ganz gut gewesen, aber es war kein schlüssiges Indiz - vor Gericht ließe sich immer noch argumentieren, es beweise gar nichts, außer daß der Beschuldigte sich auf öffentlichem Grund und Boden aufgehalten habe, was sein gutes Recht sei - wer wollte behaupten, daß er nicht gerade auf dem Weg durch das Tor gewesen war, um in Arroyo Blanco Freunde zu besuchen oder sich nach Arbeit umzusehen oder Flugzettel zu verteilen? Aber diese sechs neuen Fotos - Delaney würde vergrößerte Abzüge davon machen und sie direkt auf dem Küchentisch liegen haben, wenn die Polizei kam ...
    Als erstes aber: umziehen. Ein unwillkürlicher Schauer packte seinen Körper, dann noch einer, und er nieste zweimal, als er die Waffe aufs Bett legte und die Schuhe abstreifte. Er würde sich mit einer heißen Dusche aufwärmen, genau das würde er tun, dann den Anrufbeantworter abhören - Kyra mußte mit Jordan Pizza essen gegangen sein -, und danach würde er sich hinsetzen und selbst etwas essen, eine Dosensuppe oder so. Es hatte keine Eile. Er wußte jetzt, wo der Dreckskerl zu finden war - da oben im Gestrüpp, in Sichtweite der Mauer -, und in einer kalten Nacht wie dieser würde er ein Feuer brennen haben, und dieses Feuer würde ihn verraten. Das sollte das letzte Feuer sein, das er je angezündet hatte - in dieser Gegend jedenfalls.
    Während die Suppe in der Mikrowelle heiß wurde, nahm Delaney eine saubere Jeans aus dem Schrank, wühlte seine leichten High-Sierra-Wanderstiefel mit den zentimeterdicken Sohlen hervor, legte Thermosocken, einen Pullover und seine Regensachen auf dem Bett bereit. Die Dusche hatte ihn aufgewärmt, aber er zitterte immer noch, und ihm wurde klar, daß es nicht an der Kälte lag, sondern am Adrenalin, am puren Adrenalin. Er war zu aufgedreht, um mehr zu tun, als auf die heiße Suppe zu blasen - Campbell's Gemüsesuppe mit ganzen Stücken -, dann ging er in den Flur, nahm vor dem großen Spiegel Aufstellung und sah sich zu, wie er den Revolver in die Hose schob und wieder hervorzog, während er gleichzeitig den Anrufbeantworter abhörte. Kyra würde, wie er angenommen hatte, spät kommen - sie hatte ein Haus entdeckt, in Agoura, ausgerechnet, auch Jordan hatte sie zu spät abgeholt, und sie wollte mit ihm vielleicht chinesisch essen und dann in ein Spielzeuggeschäft gehen; er sammelte jetzt X-Men-Karten. Delaney schloß ab, steckte den Film in die Tasche und trat in den Regen hinaus.
    Es regnete stark. Der Piñon Drive sah aus wie ein Flußbett, nichts bewegte sich außer Wasser, und er hörte Felsblöcke in den betonierten Abzugsgräben krachen, die hoch oben am Hang Muren und Geröll von der Anlage fernhielten. Delaney stand eine Weile im Regen und dachte nach, lauschte dem Dröhnen des nachgebenden Berges - bei der Erosion im Brandgebiet und bei diesem Regen könnte alles mögliche passieren. Sie waren gefährdet - es bestanden die klassischen Voraussetzungen für einen Erdrutsch, dank diesem feurigen Mexikaner hielt da oben nichts mehr den Boden zusammen -, allerdings konnte er wenig dagegen tun. Wenn die Gräben überschwemmt wurden, war immerhin noch die Mauer da, um abzuhalten, was dann herunterkäme - es war ja nicht so, daß er und seine Nachbarn Sandsäcke aufschichten müßten. Er machte sich Sorgen, natürlich - er machte sich ständig Sorgen -, und wenn die Wettergötter ihm einen Wunsch freistellten, würde er den Regen zu einem netten, harmlosen, sanften Nieseln zurückschrauben, aber bei diesem Wolkenbruch war der Dreckskerl da oben wenigstens in seinem Unterschlupf festgenagelt, was immer er sich zusammengebastelt hatte, und damit war er noch leichter zu finden.
    Bei den Cherrystones fand Delaney ohne Probleme den Schlüssel unter dem Blumentopf, und er hängte seinen Poncho an die Küchentür, um nicht den ganzen Fliesenboden naßzutropfen. Er tastete nach dem Lichtschalter, der Revolver drückte sich gegen seinen

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