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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aus seinem Bau zu scheuchen, seine Zähne und Zehen und die Haare auf seinem Kopf zu zählen und das alles aufzuzeichnen als Beweis. Delaney war schon hier oben gewesen, hundertmal, auf der Pirsch nach hundert verschiedenen Geschöpfen - er war schließlich der Pilger. Seine Sinne waren geschärft. Ihm entging nichts.
    Und dann, wie er es erwartet hatte, nahm er den ersten schwachen, feinen Geruch war: Rauch. Delaney berührte in diesem Moment den Revolver, faßte ihn dort an, wo er sich gegen seinen Unterleib preßte, und ließ sich von seiner Nase leiten.

8
    »Du siehst aus, als ob du gerade ein Gespenst gesehen hättest.«
    Cándido legte Zweige ins Feuer, versuchte sich daran zu wärmen, und er antwortete nicht. Eben noch hatte er draußen im Dunkeln und im strömenden Regen ihren Namen gerufen, um sie nicht zu erschrecken - »Ich bin's, mi vida « -, war durch den klatschnassen Teppichvorhang gekrochen, der vor der Eingangsöffnung hing, und hatte die Nässe mit hereingebracht. Er hatte die Sandalen draußen abgestreift, aber seine Füße waren bis zu den Knöcheln mit Schlamm verschmiert, Hemd und Hose waren dunkel von der Nässe und klebten an seiner Haut. Er hatte keine Jacke. Und auch keine Mütze.
    América wollte gerade sagen: Cándido, mi amor, du mußt dir draußen die Füße abspülen, hier drin ist es schon schlimm genug, da in der Ecke regnet es durch, und der Gestank nach Schimmel oder Pilz, oder was immer ist, macht mich noch verrückt, aber nach einem Blick in sein Gesicht überlegte sie es sich anders. Er hatte auch nichts in der Hand, und das war seltsam - sonst brachte er immer irgend etwas mit, einen Stoffetzen, in den sie das Baby wickeln konnte, ein Paket mit Tortillas oder Reis und manchmal einen Schokoriegel. Heute abend hatte er gar nichts dabei, und diese komische Miene. »Stimmt irgendwas nicht?« fragte sie.
    Er zog die dreckigen Füße unter sich, in dem kleinen Verschlag, in dem man sich wie in einer Versandkiste fühlte, das ganze Ding war kaum größer als die Ehebetten, in denen die Gringos schliefen, und sie sah jetzt, wie hager und ausgemergelt er geworden war, und auf einmal mußte sie weinen, sie konnte es nicht zurückhalten, und es klang in ihren eigenen Ohren wie das Winseln eines Hundes. Sie weinte, aber sie verschluckte die Töne, bevor sie ihr entweichen konnten, und der Regen trommelte auf das grüne Plastikdach und tröpfelte an der transparenten Folie hinunter, die Cándido irgendwo aufgetrieben hatte, um die Wände zu verkleiden, und noch immer antwortete er ihr nicht. Sie sah, wie ihn ein Schauer durchfuhr und dann noch einer.
    »Ich wünschte, es wäre nur ein Gespenst gewesen«, sagte er nach einer Weile, und griff nach dem Aluminiumnapf mit cocido, der auf dem kleinen Brett in der Ecke stand, das er angebracht hatte, damit sie ihre kärglichen Vorräte irgendwo aufbewahren konnten.
    Sie sah zu, wie er den Napf aufs Feuer stellte, das Feuer schürte und ein paar größere Holzscheite darauflegte. Camping, wie sehr sie dieses Camping haßte.
    »Es war dieser gabacho «, sagte er, »der mit den roten Haaren, der mich damals angefahren hat. Er macht mir angst. Er ist wie ein Wahnsinniger. Bei uns zu Hause im Dorf würden sie den in einer Zwangsjacke in die Stadt bringen und im Irrenhaus einsperren.«
    Ihre Stimme war ganz leise. Der Regen trommelte gegen die Tür. »Was ist passiert?«
    »Was glaubst du wohl?« Er schob die Unterlippe vor, und der Schein des Feuers ließ sein Gesicht wieder lebendig werden. »Ich bin die Straße entlanggegangen, in Gedanken - und heute war bis jetzt der schlimmste Tag, nichts, keine Chance auf Arbeit -, da taucht plötzlich ein Auto hinter mir auf, und ich schwöre dir bei Jesus Christus am Kreuz, dieser Wahnsinnige hat schon wieder versucht, mich zu überfahren. Zentimeter. Um ein paar Zentimeter hat er mich verfehlt.«
    Sie roch jetzt den cocido - es war Fleisch darin, irgend etwas, das er gefangen hatte, außerdem Kartoffeln und Chilis und eine kräftige Brühe. Sie konnte es ihm jetzt nicht sagen, noch nicht, auch wenn sie sich den ganzen Tag lang dafür gestählt hatte - Socorro mußte zu einem Arzt, sofort, es mußte einfach sein -, aber wenn er aufgegessen und sich aufgewärmt hatte, dann würde sie es ihm sagen.
    Cándido sprach leise vor Staunen. »Und dann ist er aus dem Wagen gestiegen und mir nachgerannt - mit einem von diesen Telefonen in der Hand, die ohne Schnur dran -, und ich glaube, er hat die Polizei angerufen,

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