América
aber ich hatte keine Lust, das abzuwarten, da kannst du drauf wetten. Aber um was geht's da eigentlich? Was hab ich diesem Mann getan? Von dem Feuer kann er doch nichts wissen, oder? Und das war ein Versehen, weiß Gott ...«
»Vielleicht hat er dich schon beim erstenmal mit Absicht angefahren. Vielleicht ist er ein Rassist, ein Schwein. Vielleicht haßt er uns, weil wir Mexikaner sind.«
»Das glaube ich einfach nicht. Wie kann jemand so bösartig sein? Er hat mir doch zwanzig Dollar gegeben, weißt du noch?«
»Zwanzig Dollar«, fauchte sie und riß so heftig die Hand hoch, daß sie das Baby aufweckte. »Und dann hat er seinen Sohn in den Cañon geschickt, um uns zu schikanieren, stimmt doch?«
Später, nachdem Cándido den Rest des Eintopfs mit drei Tortillas ausgeputzt hatte, sein Hemd getrocknet war und die Schlammkrusten an seinen Füßen langsam abbröckelten und durch die Ritzen im Fußboden fielen, riß sie sich zusammen und kam auf die Sache mit Socorro und dem Arzt zurück. »Sie hat irgendwas«, sagte América, gerade als eine windgepeitschte Regensalve gegen die Plastikfolie prasselte wie Querschläger einer Kanonade. »Etwas an den Augen. Ich habe Angst, ich habe Angst, daß ...« Aber sie konnte nicht weitersprechen.
»Was meinst du, an den Augen?« Cándido wollte es nicht hören, er konnte keine weitere Sorge brauchen. »Gar nichts ist mit ihren Augen«, sagte er, und wie um es zu beweisen, nahm er ihr das Baby aus dem Arm. Als Reaktion darauf fuchtelte Socorro mit den Armen und stieß einen krächzigen, heiseren Schrei aus. Er sah kurz in ihr Gesicht - nicht zu genau, er hatte Angst, zu genau hinzusehen -, dann wandte er sich an América und sagte: »Du bist verrückt. Sie ist doch wunderschön, sie ist vollkommen - was willst du denn noch?« Socorro wurde wieder zurückgereicht, zart und zerbrechlich und in ihr Handtuch gehüllt, aber Cándido ging mit ihr um, als wäre sie ein Reisigbündel, ein Brotlaib, einfach nur ein Gegenstand.
»Sie, sie sieht mich nicht, Cándido - sie kann nichts sehen, ich habe Angst.«
Cándido war wie vom Donner gerührt. Der Regen gellte. »Du bist verrückt.«
»Nein«, und sie brachte kaum die Worte heraus, »nein, das bin ich nicht. Wir brauchen einen Doktor - vielleicht kann er etwas ausrichten, vielleicht -, du weißt nämlich nichts, Cándido, du weißt gar nichts, und du willst auch gar nichts wissen.« Sie war jetzt zornig, alles brach aus ihr heraus, die ganze Angst und Besorgnis und die Schmerzen der letzten Tage, Wochen, Monate: »Es war meine Pisse, meine Pisse hat so gebrannt, deshalb ist es passiert, wegen« - sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, das Feuer flackerte, die Lampe verwandelte sein Gesicht in eine Totenmaske - »wegen dieser Männer damals.«
Es war die schlimmste Wunde, die sie ihm beibringen konnte, aber er mußte es verstehen, und es lag auch kein Vorwurf darin - was passiert war, war passiert -, doch seine Antwort hörte sie nicht mehr. Denn in diesem Moment knallte etwas gegen die Seitenwand der Hütte, etwas Großes, etwas Lebendiges, der Vorhang wurde aus der Tür gerissen und in die Nacht hinausgeschleudert, und da war dieses Gesicht, das zu ihnen hineinspähte. Das Gesicht eines gabacho, so unerwartet, erschreckend und entsetzlich wie eine Fratze, die einen am Dia de los Muertos aus einer dunklen Ecke anspringt. Aber dieser Schrecken war noch gar nichts, denn zu dem Gesicht gehörte eine Hand, und diese Hand hielt einen Revolver.
Delaney fand die Hütte, und seine tastenden Finger sagten ihm, daß sie aus gestohlenen Paletten und Gestrüpp und dem Acryldach von Bill Vogels Treibhaus bestand, das seit einiger Zeit fehlte. Drinnen brannte Licht - ein Feuer und vielleicht auch eine Lampe -, das ihn leitete, aber der Schlamm war glitschig wie Öl auf Glas, und er verlor das Gleichgewicht und verriet sich. Er glaubte, Stimmen zu hören. Mehr als eine. Er war entrüstet - wie viele von denen waren dort, wie viele denn noch? Das durfte nicht so weitergehen, diese Umweltzerstörung, dieser Müll in den Bergen und Bächen und Sümpfen und der gesamten Natur; jetzt war Schluß damit. Er stürzte auf den gestohlenen Teppich zu, der den Eingang verdeckte, und riß ihn mit einer Hand weg, weil die andere, seine rechte Hand, irgendwie auf einmal den Revolver hielt, und es war, als wäre die Waffe beseelt und lebendig, als wäre sie ganz von selbst aus dem Holster in seine zupackenden Finger gerutscht ...
Und von diesem Moment an
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