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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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die Überlebenden eines Schiffbruchs, die auf einem Floß dahintrieben.
    Delaney schob sich in den rückwärtigen Teil des Saals, neben ein Ehepaar, das er nicht kannte. Der Mann war Mitte Vierzig, hatte aber die Statur eines College-Sportlers und sah aus, als hätte er gerade irgendeine Heldentat vollbracht. Die Frau, sie war mindestens eins dreiundachtzig groß, hatte etwa Kyras Alter - er schätzte sie auf Mitte Dreißig - und trug schwarze Lycra-Shorts und ein Trikothemd mit einem Uni-Logo darauf. Sie schmiegte sich an ihren Mann wie ein Baumschößling an einen Felsen. Delaney vermerkte unwillkürlich, wie die Shorts Form und Funktion des Hinterns der Frau in makelloser Darstellung betonten, aber dann erinnerte er sich an das Ding in seiner Tasche und blickte auf, über das Meer der Köpfe und in das scharfe weiße Flutlicht der Neonröhren.
    Jack Jardine saß oben auf dem Podium, neben ihm Jack Cherrystone, der Geschäftsführer des Eigentümerverbands, und Linda Portis, die Schatzmeisterin. Die reguläre Versammlung, bei der Delaney seine Nachbarn vor den Gefahren jeglichen Fütterns der lokalen Fauna gewarnt hatte, war nach einer langen Debatte über die Tor-Frage bis nach Mitternacht vertagt worden, und Jack hatte die jetzige außerordentliche Sitzung für eine Abstimmung einberufen. Unter normalen Umständen wäre Delaney zu Hause geblieben und hätte sich in ein Buch von John Muir oder Edwin Way Teale versenkt, aber es herrschten eben keine normalen Umstände. Nicht daß er der Frage gleichgültig gegenüberstand - das Tor war absurd, eine Einschüchterung und Ausgrenzung, antidemokratisch überdies, und er hatte privat oft dagegen argumentiert -, aber in seinen Augen war die Sache ein fait accompli. Die Nachbarn waren in überwältigender Zahl dafür, von Zeitungen und Fernsehnachrichten aufgepeitscht zu reaktionärem Fanatismus, und er hatte keine große Lust, eine der wenigen Gegenstimmen abzugeben, er war kein Wirrkopf wie Rudy Hernández, der sich gern reden hörte und bei Streitfragen jeden einzelnen Aspekt so lange ausdiskutierte, bis alle im Saal ihn am liebsten erwürgt hätten. Das Tor würde errichtet werden, dagegen konnte Delaney nichts tun. Trotzdem war er da. Und fühlte sich unwohl. Er war da, weil er ein privates Anliegen hatte, das ihm in der Seitentasche seines Anoraks spürbar gegen die Hüfte drückte, und wenn er daran dachte, wurde seine Kehle trocken.
    Irgendwer sprach zum Thema, aber Delaney war so in seine Gedanken vertieft, daß er gar nicht mitbekam, was gesagt wurde. Es würde eine Diskussion geben und dann eine Abstimmung, und er würde sich für den Rest seiner Tage jedesmal wie ein Verbrecher fühlen, wenn er zu seinem Haus fuhr, würde sich bei irgendeinem Blödmann in einer kryptofaschistischen Uniform entschuldigen und immer besondere Vorkehrungen treffen müssen, wenn Bekannte zu Besuch kamen oder ein Päckchen erwartet wurde. Er dachte an die Wohngegend, in der er aufgewachsen war, an die zaunlosen Rasenflächen, die von allen gemeinsam benutzt wurden, die tiefen, üppigen Sumpfwälder, in denen er Farne, Frösche, Schlangen entdeckt hatte, die ganze leuchtende Fülle der Schöpfung. So etwas gab es heute nicht mehr. Jetzt gab es Zäune. Jetzt gab es Tore.
    »Das Wort hat nunmehr Doris Obst«, sagte Jack Jardine, und seine Stimme erhob sich über die Strömungen des Raums wie im Gesang, als sprächen alle anderen im Saal Prosa und nur er allein Poesie.
    Die Frau, die links vorn aufstand, war von unbestimmbarem Alter. Ihre Bewegungen waren schwungvoll, und sie trug ein Kleid, das sich ihrer Figur anschmiegte, als wäre es aufgemalt, doch ihr Haar war grau und ihre Haut von demselben toten, gnadenlosen gebleichten Weiß wie das schwere Briefpapier, das Delaney für Geschäftspost verwendete. Delaney hatte sie noch nie zuvor gesehen, und diese Erkenntnis, zusammen mit der Tatsache, daß er überhaupt niemanden von den Umstehenden erkannte, verursachte ihm ein leises nagendes Schuldgefühl. Er sollte disziplinierter sein und öfter zu diesen Versammlungen gehen, sagte er sich, das sollte er wirklich.
    »... und zwar der finanzielle Faktor«, sagte Doris Obst in einem grüblerischen, nahezu maskulinen Tenor, »denn ich bin sicher, jeder hier im Saal hat das Gefühl, daß unsere laufenden Kosten jetzt schon astronomisch hoch sind, und da frage ich mich, ob der Kostenvoranschlag des Vorsitzenden auch stimmt, oder ob wir nicht irgendwann noch ein paar außerordentliche

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