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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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konnte. Probleme hatte er nicht damit. Ihn belasteten keine pubertären Macho-Allüren wegen des Rollentauschs oder der Frage, wer die Hosen anhatte, und so weiter - Immobilien waren ihr Leben, und er war mehr als froh, ihr mit ein paar Dingen helfen zu können, solange er nur seine vier Stunden am Computer hatte.
    Kyra zog die Augenbrauen hoch, sah aber nicht auf. Nacheinander steckte sie in jedes der Kuverts ein kleines weißes Briefchen. »Viel zu tun?« wiederholte sie. »Viel ist gar kein Ausdruck. Gleich nachher zeige ich einem Kunden zwei Objekte, beides ziemlich schäbige Hütten. Dann hab ich einen Käufer für das Calabasas-Grundstück, aber der bekommt gerade kalte Füße - dabei endet in acht Tagen die Treuhandfrist -, und um eins ist ein Besichtigungstermin in dem Haus an der Via Escobar ... sind das die Hunde da draußen? Warum bellen die so?«
    Delaney zuckte die Achseln. Jordan hatte seinen Ballaststoffriegel ausgewickelt und wanderte damit ins Fernsehzimmer hinüber - das bedeutete, daß er zu spät zur Schule käme, wenn Delaney ihm nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten Tempo machte. Die Katze, die er noch nicht gefüttert hatte, schmiegte sich an sein Bein. »Keine Ahnung«, sagte er. »Sie kläffen schon die ganze Zeit, seit sie draußen sind. Wird wohl ein Eichhörnchen sein oder so was. Oder vielleicht ist Jacks Hund wieder unterwegs und pinkelt an den Zaun, das macht sie doch jedesmal verrückt.«
    »Wie auch immer«, fuhr Kyra fort, »es wird die Hölle los sein. Außerdem hat Carla Bayer Geburtstag, deswegen werden ein paar von uns nach der Arbeit noch ... Findest du nicht, daß das eine nette Idee ist?« Sie hielt eines der Briefchen in die Höhe, die sie in die Kuverts steckte. Es war eine Samenpackung, auf der Blumen abgebildet waren, und darüber verlief der Aufdruck Vergißmeinicht, mit freundlichem Gruß von Kyra Menaker-Mossbacher, Mike Bender Immobilien.
    »Ja, schon«, murmelte er und wischte über einen imaginären Fleck auf dem Küchentisch. Das war ihre Methode, Verbindung zu ihren Kunden zu halten. Etwa einmal im Monat, oft anläßlich irgendeines Feiertags, ging sie ihr Adreßverzeichnis durch (in dem sich alle fanden, für oder an die sie je ein Objekt verkauft hatte, ganz gleich, ob sie inzwischen nach Nome, Singapur oder Irkutsk verzogen oder auch in die Große Kette des Daseins dahingegangen waren) und schickte jedem ein kleines Zeichen ihrer fortwährenden Existenz und Verhandlungsbereitschaft. Sie nannte es »alle Wege offenhalten«. Delaney beugte sich vor, um die Katze zu streicheln. »Aber kann nicht eine der Sekretärinnen solche Sachen für dich erledigen?«
    »Was zählt, ist der persönliche Touch - nur so werden Häuser verkauft. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«
    Es entstand eine Pause, und Delaney bemerkte, daß im Nebenzimmer das Gebrabbel einer Zeichentricksendung den Nachrichtensprecher abgelöst hatte, und dann, gerade als er Jordans Gedeck abräumte und auf der Digitalanzeige der Mikrowelle nach der Uhrzeit sah - 7:32 -, brach der Morgen auseinander. Oder nein: Er wurde in Fetzen gerissen, von einem atemlosen Schreckensschrei, der sich vor dem Fenster erhob wie aus einem urzeitlichen Traum. Das war kein Kläffen, kein Blaffen, kein Gebell oder Geheul - es klang endgültig und unwiderruflich, ein Raubtierschrei, der allen den Firnis von der Seele blättern und sie zur Salzsäule erstarren ließ. Entsetzt hörten sie zu, wie der Ton noch schriller wurde, bis er ebenso plötzlich abbrach, wie er begonnen hatte.
    Die Nachwirkung war elektrisierend. Kyra schoß vom Stuhl hoch, stieß dabei ihre Tasse um und verstreute Briefumschläge; die Katze sauste zwischen Delaneys Beinen durch und verschwand; Delaney ließ den Teller fallen und tastete wie blind nach der Arbeitsplatte. Und dann kam Jordan mit Stakkatoschritten durch die Tür, sein Gesicht weit offen wie eine bleiche nächtliche Blume: »Delaney«, keuchte er, »Delaney, etwas, etwas ...«
    Aber Delaney war bereits in Aktion. Er riß die Tür auf, rannte mit gesenktem Kopf über die Einfahrt und bog gerade noch rechtzeitig um die Ecke des Hauses, um zu sehen, wie ein fahlbrauner Schemen den zwei Meter hohen Maschendraht erklomm und dabei mit den Zähnen ein verkrampftes weißes Wesen gepackt hielt. Sein Gehirn dekodierte dieses Bild: Irgendwie hatte es ein Coyote geschafft, in die Umfriedung einzudringen, und einen der Hunde erwischt, und da war sie jetzt, die wilde Natur, setzte den Zaun hinauf

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