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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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warfen, und Delaney sah, daß es Jack jr. war, Jack Jardines Sohn.
    Jack jr. wiegte sich wie ein Eukalyptusbaum im Wind, ein Wunder an Spannkraft und neu erworbener Körpergröße, schlaksige Gliedmaßen, große Füße und Hände vom Format eines Baseballhandschuhs. Er war achtzehn, hatte schlammbraune Augen, die die Pupillen kaum erkennen ließen, und er sah kein bißchen wie sein Vater aus. Zum einen hatte er rote Haare - nicht das dünne blasse Karottenrot, das Delaney von seiner schottisch-irischen Mutter geerbt hatte, sondern jenes tiefe changierende Kastanienbraun, wie es manchmal im Abendlicht auf Pferdeflanken schimmerte. Er trug es oben lang, in einem Wirrwarr von Locken, und unterhalb der Ohren bis auf den Schädel abrasiert. »Hallo, Jack«, sagte Delaney, und er spürte die Erschöpfung in der eigenen Stimme.
    »Hat's einen von Ihren Hunden erwischt, was?«
    »Tja, leider«, seufzte Delaney. »Das wollte ich denen da drin gerade sagen - wilde Tiere füttert man schlicht und einfach nicht. Aber es hört einem ja keiner zu.«
    »Ja, ich weiß, was Sie meinen.« Jack jr. kickte nach irgend etwas mit der Spitze eines seiner großen Lederstiefel. Bei diesem Licht schienen die Schuhe aus dem Boden zu wachsen und mit seinem Körper zu verschmelzen, massige Stämme, die ihn in der Erde verankerten. Es herrschte Schweigen, und Delaney erwog nochmals, sich zu erheben und auf den Heimweg zu machen, doch er zögerte noch. Immerhin war da ein mitfühlendes Ohr, ein aufnahmebereiter Verstand.
    »Was sie einfach nicht begreifen ...«, begann Delaney, doch bevor er den Gedanken beenden konnte, unterbrach ihn Jack jr.
    »Übrigens - wegen neulich abend? Als Sie mit meinem Vater geredet haben, Sie wissen schon, der Mexikaner ...«
    Der Mexikaner. Schlagartig stieg das Gesicht des Mannes auf und preßte sich in die Ränder von Delaneys Bewußtsein, erfüllte ihn wie ein schwangerer Geist mit Bildern der fauligen Zähne und des fleckigen Schnurrbarts. Der Mexikaner. Wegen der Sache mit Sacheverell hatte er ihn ganz vergessen. Jetzt erinnerte er sich. Der Junge hatte auf dem Sofa ausgestreckt gelegen wie ein ruhender Monarch, als Delaney zu Jack gekommen war, um den Unfall mit ihm zu besprechen, und Delaney hatte es als komisch empfunden, daß Jack ihn nicht in ein anderes Zimmer oder hinaus auf die Terrasse bat, wo sie unter vier Augen hätten sprechen können. Jack ignorierte seinen Sohn - ebensogut hätte er zum Mobiliar gehören können. Er legte Delaney den Arm um die Schulter, goß ihm einen Drink ein, hörte sich die Geschichte an und versicherte ihm, er habe nichts zu befürchten, überhaupt nichts - wenn der Mann legal da war, warum hatte er seine Hilfe abgelehnt? Und wenn er ein Illegaler war, welche Aussichten hatte er dann, einen Rechtsanwalt zu finden - und wofür eigentlich? »Aber Jack«, hatte Delaney eingewendet, »ich habe den Unfall nicht gemeldet!« Jack hatte ihn gemustert, seelenruhig und komplizenhaft. »Unfall?« fragte er, und er war der vernünftigste Mensch auf der Welt - Richter, Geschworener und Anwalt in einem. »Du hast doch angehalten und deine Hilfe angeboten - die der Mann nicht wollte. Was hättest du denn noch tun sollen?«
    Richtig. Aber jetzt fragte plötzlich Jack jr. nach, und Delaney sank das Herz in die Hose. Auf der ganzen Welt gab es fünf Menschen, die von dem Vorfall auf der Straße wußten, und sein Pech war, daß Jack jr. zu ihnen gehörte. »Ja?« fragte er. »Was ist mit dem?«
    »Och, nichts. Ich hab mich bloß gefragt, wo genau das passiert ist - weil Sie doch sagten, der hätte irgendwo kampiert und so.«
    »Unten auf der Cañyonstraße. Wieso?«
    »Ach, ich weiß nicht.« Wieder trat Jack jr. gegen einen Stein. »Ich wollt's nur wissen. Ich sehe nämlich verdammt viele von denen da unten in letzter Zeit. Sie sagten doch, es war unterhalb der Holzhandlung, oder? Wo der Pfad in die Schlucht runterführt?«
    Delaney begriff beim besten Willen nicht, worauf der Junge hinauswollte - was ging ihn das an? Dennoch beantwortete er die Frage fast im Reflex - er hatte ja nichts zu verbergen. »Ja, genau«, sagte er. Und dann kam er auf die Beine, nuschelte: »Na dann, ich muß mich langsam auf den Weg machen« und trat in die Dunkelheit hinaus. Seine Finger umfaßten das klägliche Stück Fleisch in der Jackentasche.
    Er nahm sich vor, es in die Tiefkühltruhe zu legen, wenn er zu Hause war. Es würde nämlich bald anfangen zu stinken.

4
    Am Morgen, nachdem América den Cañon

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