América
vergleichen mit einem Lohn, den ihr ein Fremder zahlte - und noch dazu ein Gringo. Cándido würde staunen. Sicher hatte er inzwischen geahnt, daß sie Arbeit gefunden hatte, aber er sollte nur warten, bis sie abends zu ihm in den Cañon hinunterkam, mit so vielen Lebensmitteln beladen, wie sie nur tragen konnte: Fleisch und Eier, Reis und eine Dose Sardinen, diese großen in Öl, das man sich von den Fingern leckte ...
Sie dachte daran, hielt dieses Bild im Kopf fest, bis es dort eingebrannt war, und ihre Hände waren auch nach acht Stunden noch rasch und geschickt, und die scharfen Dämpfe machten ihr kaum etwas aus. Dafür machten sie Mary etwas aus. Und zwar eine Menge. Die große Gringa mit dem Ring in der Nase fluchte pausenlos darüber, seit der dicke Mann sie in diesen großen, langen, wunderschönen Raum mit den vielen Fenstern geführt und ihnen gelbe Gummihandschuhe und eine Plastikflasche mit dem ätzenden Mittel gegeben hatte. América verstand natürlich nicht, was die Frau da sagte, und sie versuchte es zu überhören, aber dem Sinn nach war es kaum zu verkennen. Mary gefiel die Arbeit nicht. Mary brauchte die Arbeit nicht. Mary hatte ein Haus mit vier Wänden und einem Dach und einen Kühlschrank mit Essen darin. Sie mochte weder die stinkenden Dämpfe noch den dicken Mann, sein schönes Haus oder das Leben auf diesem Planeten. Sie schüttete sich die mitgebrachte Flasche Alkohol in die Kehle, und im Lauf des Tages wurde sie immer langsamer, bis sie am Ende praktisch nichts weiter tat, als herumzusitzen und zu nörgeln.
Es war eine schwere Arbeit, das stand fest. Entlang der Wände waren Hunderte von geflochtenen Schachteln aufgestellt und im rückwärtigen Teil des Raums bis zur Decke gestapelt, und in jeder Schachtel lag ein Buddha aus Stein, der schwarz angelaufen war. Sie sahen alle gleich aus: sechzig Zentimeter hoch, schwerer als Blei, mit kahlem Kopf, dem Bauch einer schwangeren Frau und einem dümmlichen Grinsen, das Weisheit ausdrücken sollte, aber ebensogut an Schwachsinn oder Verstopfung erinnern konnte. Und jeder Buddha mußte mit dem Mittel geschrubbt werden, um die Verfärbung von Stirn, Augenlidern und Lippen zu entfernen, bis hinein in die Höhlungen seiner Achseln und die winzige geschwärzte Vertiefung des Bauchnabels. Nach dem Reinigen, wenn das Mittel den Belag verzehrt und die Drahtbürste alle Ritzen ausgekratzt hatte, erstrahlte der Buddha in schimmerndem Rosa, und das war der Moment, ihm den selbstklebenden goldenen Papierstreifen aufzudrücken, auf dem stand: J im Shirley Imports.
América störten die Dämpfe nicht, auch nicht das öde, näselnde Genörgel der Gringa, ihre steif gewordenen Finger und ihre Rückenschmerzen, die davon herrührten, daß sie Statue um Statue aus der Schachtel heben und vor sich auf den Tisch stellen mußte - ihr ging es nur darum, diesen kräftigen dicken Mann mit Bart zufriedenzustellen, der ihr die Chance gab, das Geld zu verdienen, das sie brauchte, um am Leben zu bleiben, bis die Lage sich besserte. Sie arbeitete hart. Arbeitete für zwei Frauen. Und sie legte keine Pause ein, nicht einmal um den schmerzenden Rücken zu strecken oder die verkrampften Finger zu massieren, nicht einmal eine Minute.
Endlich, als die rosettenförmige bronzene Wanduhr Viertel nach sieben zeigte, kam der dicke Mann völlig verschwitzt zur Tür hereingepoltert und funkelte die Frauen wütend an. Er keuchte, und sein großes T-Shirt - vorne drauf war Micky Maus vor den Stufen von Disneyland - hatte nasse Flecken in den Achseln. Er blaffte irgend etwas mit seiner dröhnenden tiefen Stimme, und Mary sprang sofort auf und blaffte etwas zurück. América hielt den Kopf gesenkt und fuhr mit der Drahtbürste über den Bauch des nächsten Buddha, als wollte sie ihn durchsägen. Sie war müde und hungrig, und sie mußte pinkeln, aber zugleich wollte sie für immer in diesem großen, sauberen, offenen Zimmer bleiben und für jede Stunde, die Blut in ihren Adern floß und Luft durch ihre Lungen strömte, vier Dollar sechzehn verdienen. Sie putzte die Statue. Putzte wie wild.
Der patrón schien es nicht zu bemerken. Seine Worte waren kurz und abgehackt, als hätte er nicht genug Luft dafür übrig - »Okay, das wär's, Schluß, gehen wir!« -, dabei klatschte er zweimal in die Hände, zwei kurze, ungeduldige Schläge, abrupt wie eine Kanonade. América wagte nicht aufzublicken. Ihre Finger flogen dahin, die Bürste kratzte. Er stand jetzt direkt vor ihr - »Komm schon,
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