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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gehen wir, ich hab's eilig!« -, und sie spürte die Panik in sich aufsteigen. Es war Zeit zum Gehen, ja? Acht Stunden oder mehr, also war es Zeit. Trotzdem hatte sie das Gefühl, er kritisierte sie, hielte sie an, noch mehr und noch schneller zu arbeiten, mit Bürste und Putzmittel jeden einzelnen Buddha im ganzen Raum zum Glänzen zu bringen, als käme er frisch aus der Gußform.
    »Jesus Maria«, sagte er und zischte durch die Zähne. Diesmal verstand sie ihn. Sie wollte sich entschuldigen - die Worte lagen ihr auf den Lippen -, aber sie hatte keine Gelegenheit dazu, denn er packte sie am Ellenbogen und riß sie brutal hoch - »Schluß jetzt, Schluß damit!« -, während Mary, eine Zigarette zwischen den Lippen, »¡Vamos!« lallte, und alle drei setzten sich in Bewegung, hasteten durch die Tür und die Stufen hinunter und in das schöne neue Auto mit den luftdichten Türen.
    Mary saß vorn neben dem patrón, so daß América die ganze Breite des Rücksitzes für sich hatte, wie eine Königin oder ein Filmstar. Sie ließ sich in das Polster sinken, und sah hinaus auf die tiefgrünen Rasenflächen mit ihren bunten Blumen - überall Blumen, selbst die Bäume auf den Straßen blühten gerade -, und auf die großen eckigen Häuser, die sich auf den Hügeln hinter ihr erhoben und mit Fensterfronten gespickt waren, als erwarteten sie eine Invasion aus dem Meer. Sie fragte sich, wie es wohl war, in so einem Haus zu wohnen und durch das Küchenfenster auf die sonnenbeschienenen Wände des Cañons hinauszuschauen, während die Maschine zum Geschirrspülen einem die Arbeit abnahm und das Radio leise, traurige Geigen- und Cellomusik spielte. Dabei musterte sie den Nacken des dicken Mannes. Doch darin fand sich keine Antwort. Fett und rosig, mit kleinen porigen Fleischwülsten am Genick und wild sprießenden, borstigen Haaren, hätte es jedermanns Nacken sein können. Dann dachte sie an die Frau des Mannes - wie die wohl war? War sie auch so dick? Oder war es eine dieser Frauen, die man auf Reklamefotos sah, in einem Stretchbody, der ihre aufgepumpten Brüste umspannte, und mit Augen, die einem entgegenstarrten wie die eines Tiers?
    Sie fuhren durch ein Tor - zwei pastellfarben lackierte Stahlgitter, die automatisch aufgingen, als sich der Wagen näherte. Am Morgen war das Tor noch nicht dagewesen - dessen war sich América sicher. Sie waren etwa um halb elf gekommen, und sie hatte alles hellwach beobachtet, jede Feinheit, die Häuser, die Autos, die Menschen darin, und sie erinnerte sich, daß sie dort ein halbes Dutzend ihrer Landsleute gesehen hatte, mit Schaufeln, Spitzhacken und einem Betonmischer - sie meinte sogar, einen der Männer von der Arbeitsvermittlung zu erkennen, aber der Wagen fuhr zu schnell vorbei. Die Straße war eingerahmt gewesen von zwei steinernen Pfeilern und einem schmiedeeisernen Bogen, der eine spanische Aufschrift -  Arroyo Blanco - trug, dazu ein englisches Wort, das sie nicht entziffern konnte, und daneben stand eine kleine Kabine, wie der Platz der Kartenverkäuferin im Kino, aber es hatte niemand darin gesessen, und der dicke Mann hatte nicht angehalten. Jetzt war ein neues Tor eingebaut. América blickte über die Schulter zurück und sah, daß das Stahlgitter über die beiden Hauptpfeiler zu einer Reihe von niedrigeren Steinsäulen hinausreichte, die erst halb fertig waren. Außerdem sah sie eine Schubkarre, drei ordentlich aufgereihte Schaufeln und eine Spitzhacke, dann bogen sie auf die Cañonstraße ein, die den Hügel hinunter zur Arbeitsvermittlung führte.
    Mary redete auf den patrón ein, fuchtelte mit den Händen und deutete - sie beschrieb einen Weg, das war es -, und er bog in eine von staubigen Eichen gesäumte Seitenstraße ab, an deren Ende sich ein Häufchen kleiner Hütten duckte. Die Hütten brauchten zwar einen neuen Anstrich, aber sie sahen hübsch aus, richtig romantisch mit Holzschindeln, festen Veranden und verwitterten Balken. Davor parkten Pick-ups und schnittige ausländische Autos. Man sah Blumentöpfe, überall Katzen, es roch nach Holzkohlengrill. Hier lebte also Mary, die Gringa.
    Der Dicke hielt vor einem Bungalow aus Redwoodholz am Ende der Straße, Mary sagte etwas zu ihm, und er verlagerte das Gewicht auf dem Sitz, um an seine Brieftasche zu kommen. América konnte nicht sehen, wieviel er ihr gab, aber dem Verhalten dieser großen, nichtsnutzigen Gringa nach zu urteilen, war es offensichtlich für die vollen achten Stunden und nicht nur die fünfundzwanzig

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