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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zurückjagen, wo sie herkamen, in ihre Slums oder Favelas oder Barrios oder wie immer diese Dinger hießen. Jedenfalls gehörten sie nicht hierher, das stand fest. Er riß den Schilfkolben aus dem Boden und schleuderte ihn beiseite, dann schob er den Rucksack in die richtige Position und machte sich auf den Weg flußabwärts.
    »He, amigo!« - jetzt klang die Stimme des Mannes wie ein wildes, schrilles Wiehern - »schönen Tag noch, ja?«
    Der Rückweg zur Straße war kein Problem - kaum daß er seine Muskeln spürte. Aber die Freude war ihm vermiest worden, und das nagte an ihm - es war noch nicht einmal zwölf, und der Tag war kaputt. Er fluchte, als er wieder an den Schlafsäcken vorbeikam, dann erklomm er mit fünf langen Schritten den kurzen Abhang, und schon stand er erneut auf der sengendheißen Cañyonstraße. Einen Moment lang dachte er daran, den Bach weiter zu verfolgen, unter der Brücke hindurch und um die Biegung, aber er entschied sich dagegen: hier breitete sich der Bach in der Ebene aus, bevor er ins Meer floß, und jeder Idiot, der in der Lage war, sein Auto zu parken und eine Böschung von einem Meter Höhe hinunterzukraxeln, konnte dort unten nach Belieben umherstreifen, was auch die diversen Schichten von Abfall bezeugten, die auf den Steinen verstreut lagen. Hier gab es weder Abenteuer noch Abgeschiedenheit, keinerlei Naturerlebnis. Es wäre etwa so aufregend wie zu McDonald's zu fahren und die Stare auf dem Parkplatz zu zählen.
    Er wandte sich um und ging die Straße entlang, vorbei an der wartenden Autoschlange, die von einem Mann mit gelbem Helm und einem Schild in der Hand aufgehalten wurde, auf dem vorne Stop und auf der Rückseite Slow stand. Die Lastwagen und Bagger standen jetzt still - es war Mittagspause, die Arbeiter hockten mit ihren Sandwiches und burritos im Schatten der großen Stollenreifen, der Staub legte sich allmählich, in den Büschen zeterten die Vögel, am Straßenrand blühten Chamiso und Toyon anmutig und aus freien Stücken vor sich hin. Delaney spürte die Sonne im Gesicht, kletterte über die Schutthaufen, die die Schaufeln der Bagger auf die Bankette geschoben hatten, und ließ seine langen Beinmuskeln gegen die Steigung der Straße ankämpfen. In einem seiner ersten Artikel für die »Pilgrim«-Kolumne hatte er die Beobachtung festgehalten, daß in Kalifornien der Bulldozer die gleiche Funktion erfüllte wie an der Ostküste der Schneepflug, nur daß hierzulande die Straßen von Erde und nicht von Schnee befreit werden mußten. Die Cañyonstraße war während der Regenfälle praktisch zu einer Art Flußbett geworden, so daß die Straßenbaubehörde viel zu tun gehabt hatte, um sie offenzuhalten, und jetzt, im Frühsommer, da fünf Monate lang garantiert kein Regen zu erwarten war, ging man daran, die Fahrbahn vom letzten Schutt zu reinigen.
    Dagegen hatte Delaney nichts einzuwenden, obwohl ihm lieber gewesen wäre, sie hätten sich einen anderen Tag dafür ausgesucht. Wer wollte schon dröhnende Maschinen und den Geruch nach Dieselabgasen hier unten - noch dazu an einem so schönen Tag? Er fluchte richtiggehend vor sich hin, als er die letzte der wuchtigen Baumaschinen passierte, denn seine Laune verdüsterte sich zusehends, und doch waren alle Niederlagen und Frustrationen dieses Vormittags nichts gegen das, was ihn jetzt erwartete. Denn in diesem Moment, gerade als er das letzte Fahrzeug umrundete und einen raschen Blick auf die Straße vor sich warf, erstarrte er innerlich: sein Wagen war weg.
    Weg. Verschwunden.
    Aber nein, er hatte ihn gar nicht hier geparkt, nicht dort an der Leitplanke, oder? Dann mußte er hinter der nächsten Kurve stehen, ganz sicher, und jetzt wurde Delaney schneller, rannte fast, und die Autoschlange auf der anderen Straßenseite rollte langsam bergab auf die Brücke zu, und ein zweiter Mann mit Helm und grelloranger Weste winkte mit seinem S low -Schild. Die Insassen sämtlicher Autos sahen zu Delaney hinüber. Er war die Volksbelustigung hier, die Kabarettnummer, wie er steifbeinig die Straße hinaufkeuchte, klebrigen Schweiß in den Augenwinkeln und auf den Brillenbügeln. Und dann kam er um die Kurve, sah die enge, bankettlose Biegung weiter vorn und die ganze nackte Ausdehnung des Cañyons, der sich bis zum Horizont erstreckte, und er wußte, daß er ein Problem hatte.
    Wie betäubt machte er widerwillig auf dem Absatz kehrt und stapfte die Straße zurück wie ein Zombie, schritt mehrmals die Stelle ab, an der er den Wagen geparkt

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