Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
hatte, ließ sich endlich sogar auf einem Knie nieder, um ungläubig die Reifenabdrücke mit den Fingerspitzen abzutasten. Sein Auto war doch tatsächlich verschwunden. Daran war nicht zu rütteln. Erst vor einer halben Stunde hatte er hier geparkt, genau hier, und jetzt war hier nichts mehr, kein Stahlblech, kein Chrom, keine Gürtelreifen, kein persönliches Kennzeichen. Keine Zulassung. Keine Einführung in die Vogelwelt Südkaliforniens und kein Routenplaner durch die Santa Monica Mountains.
    Als erstes dachte er an die Polizei. Man hatte ihn abgeschleppt. Natürlich, das war es. Offenbar gab es irgendeine obskure Vorschrift, daß man nicht näher als fünfzig Meter vor oder hinter einer Baustelle parken durfte - oder er hatte ein Schild übersehen. Er stand langsam wieder auf und ignorierte die Gesichter in den Autos auf der anderen Straßenseite. Dann ging er auf die Gruppe von Männern zu, die im Schatten des nächsten Baggers lagerten. »Hat einer von Ihnen gesehen, was mit meinem Auto passiert ist?« fragte er und war sich dabei der kaum unterdrückten Hysterie in seiner Stimme bewußt. »Ist es abgeschleppt worden?«
    Sie sahen ausdruckslos zu ihm auf. Sechs Latinos in Khakihemden und mit Baseballmützen, gestört beim Akt des Essens, die Sandwiches dicht vor dem Mund, die Thermoskannen gekippt, in den Händen beschlagene Limodosen. Keiner antwortete ihm.
    »Ich hatte ihn direkt da geparkt.« Delaney deutete mit dem Finger, und sechs Köpfe drehten sich pflichtbewußt, um auf die leere Bankette und die zerkratzte Kante der Leitplanke zu starren, die sich vor den Baumwipfeln und der noch viel größeren Leere des Cañyons dahinter abhob. »Ist kaum eine halbe Stunde her. Es war ein Acura - weiß, mit Aluminiumfelgen.«
    Die Männer rutschten ungemütlich herum und sahen einander verlegen an. Endlich legte ein Mann ganz hinten, der kraft seines weißen Schnurrbarts der Älteste und Anführer der Gruppe zu sein schien, behutsam sein Sandwich auf ein Stück Wachspapier und stand auf. Er betrachtete Delaney eine Weile mit unaussprechlich traurigem Blick. »Nix esprecken enlihsch«, sagte er dann.
    Eine Viertelstunde später kam Delaney doch noch zu seiner Wanderung, wenn auch nicht ganz so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Nachdem er den Vorarbeiter des Bautrupps befragt hatte - Nö, wir haben hier nix abgeschleppt, nicht daß ich wüßte -, machte er sich zu Fuß auf den Weg. Bis zum ersten Supermarkt und den Telefonen davor waren es knapp fünf Kilometer die Cañyonstraße entlang, aber es ging bergauf, und die Straße war nicht für Fußgänger gedacht. Hupen gellten, Reifen quietschten, irgendein Trottel warf eine Bierdose nach ihm. Aus Angst um sein Leben mußte er über die Leitplanke springen und sich durch das Gestrüpp schlagen: er kam langsam voran, Kletten und Samenkapseln verfingen sich in seinen Socken und zerkratzten ihm die nackten Beine, seine Kehle war trocken, und außerdem schwirrte ihm die ganze Zeit die zentrale Frage des Tages im Kopf herum: Was war mit seinem Wagen passiert?
    Aus der Telefonzelle rief er die Polizei an, wo man ihm die Nummer des Abschleppdienstes gab, also versuchte er es dort, und die sagten ihm, sie hätten sein Auto nicht - und nein, es war bestimmt kein Irrtum: sie hatten es nicht. Dann wählte er Kyras Nummer. Er erreichte aber nur ihre Sekretärin und mußte dann zehn qualvolle Minuten lang auf dem Bordstein vor der Telefonzelle zwischen alten Chipstüten und Schokoriegelverpackungen sitzen, bis sie ihn zurückrief. »Hallo?« fragte sie. »Delaney?«
    Er war durcheinander, wie gelähmt. Leute fuhren auf den Parkplatz und stiegen lässig aus ihren Autos. Türen knallten. Motoren heulten auf. »Ja, ich bin's.«
    »Was ist denn? Was ist passiert? Wo bist du?« Sie war schon wieder auf hundertachtzig.
    »Ich stehe vor Lis Supermarkt.«
    Er horchte auf ihren Atem im Hörer und zählte die Sekunden, die sie brauchte, um diese Auskunft zu verarbeiten, ihre Bedeutung zu entschlüsseln und sie ihm dann wieder hinzuknallen. »Hör zu, Delaney, ich bin hier mitten in -«
    »Sie haben mir meinen Wagen gestohlen.«
    »Was? Wovon redest du da? Wer hat ihn gestohlen?«
    Er versuchte, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was er je über Autodiebe gehört und gelesen hatte, über illegale Werkstätten, gefälschte Motornummern und Diebstahl auf Bestellung, und er versuchte, sich vorzustellen, wie diese Halunken ihre Tat am hellichten Tag verübten, während Hunderte von Menschen

Weitere Kostenlose Bücher