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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Fliegenschnäpper schoß aus dem Cañyon steil nach oben und wurde vom Sonnenlicht vergoldet. Als Delaney ein paar hundert Meter flußaufwärts gegangen war, hatte er die Schlafsäcke im Dreck und den tristen, schmuddeligen Zustand der Welt völlig vergessen. Das hier war die reine, unverdorbene Natur. Dafür war er hergekommen.
    Er bahnte sich den Weg durch dichtes Schilf, bemühte sich, trockene Füße zu behalten, und suchte im Schlamm nach den Fährten von Waschbär, Stinktier und Coyote, als ihm das Bild der Schlafsäcke wieder durch den Kopf schoß, und es war wie ein Schlag: Stimmen, er hörte Stimmen, direkt vor sich. Er erstarrte, mit einem Mal angespannt wie ein Tier auf der Jagd. Noch nie hatte er hier unten andere Menschen getroffen, niemals, und der Gedanke, jemandem zu begegnen, hätte schon gereicht, ihm die ganze Freude zu verderben, doch die Situation war noch schlimmer, sie hatte etwas Verzweifeltes, ja Gefährliches an sich. Die Schlafsäcke hinter ihm, die Stimmen dort vorn: das waren Vagabunden, Penner, Kriminelle, und hier herrschte kein Gesetz.
    Zwei Stimmen, Motiv und Kontrapunkt. Die Worte verstand er nicht, hörte nur die Tonlagen. Die eine Stimme war wie das hohe Kreischen einer Säge, die sich durch einen Baumstamm frißt, weiter und weiter, bis das Holz auseinanderfällt, dann setzte die zweite Stimme ein, etwas tiefer, abrupt und unrhythmisch.
    Manche Wanderer trugen Waffen. Delaney hatte von Überfällen auf dem Backbone Trail gehört, von tätlichen Angriffen und Vergewaltigungen. Vierradantrieb-Fanatiker donnerten in die Berge hinauf, um ihre Revolver abzufeuern, Jugendbanden schossen hier mit abgesägten Schrotflinten auf Flaschen, Felsen und Bäume. Die Stadt war jetzt auch hier, sie lauerte in der Schlucht. Delaney wußte nicht, was er tun sollte - sich davonstehlen wie ein waidwundes Tier, den Anspruch auf diesen Ort für immer aufgeben? Oder sollte er sie lieber zur Rede stellen, auf sein Recht pochen? Aber womöglich dramatisierte er die Sache ja auch. Vielleicht waren es Wanderer, Ausflügler, vielleicht waren es nur ein paar Teenager, die die Schule schwänzten.
    Und dann fiel ihm die junge Frau in dem Kurs über Vogelkunde ein, den er damals aus Langeweile belegt hatte. Es war kurz nachdem er nach Kalifornien gekommen war, bevor er Kyra kennengelernt hatte. Er erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen, aber er sah sie vor sich, wie sie sich über die Bildtafeln in Clarkes Einführung in die Vogelwelt Südkaliforniens beugte oder im abgedunkelten Vortragssaal in das Licht des Diaprojektors blinzelte. Sie war jung, Anfang Zwanzig, mit dünnem, in der Mitte gescheiteltem schwarzem Haar, und sie hatte eine sympathische Pummeligkeit an sich, in der Art, wie sie die Schultern vorschob und fest mit den Fersen auftrat. Und er erinnerte sich an ihre Wangen - die Pausbacken eines Eskimos, eines Babys, eines Alfred Hitchcock, der streng von der Leinwand starrt -, denn diese Wangen verliehen ihrer Miene eine Frische und Naivität, die sie noch jünger wirken ließ, als sie ohnehin war. Delaney war neununddreißig. Er lud sie einmal nach dem Kurs zu einem Sandwich ein, und da erzählte sie ihm, warum sie nie mehr allein wandern ging, niemals wieder.
    Bis zum Vorjahr hatte sie das noch ganz locker gesehen. Die Straßen mochten unsicher sein, sicher, vor allem nachts, aber die Prärie, die Wälder, die Wege in der Wildnis, die niemand kannte? Sie wanderte für ihr Leben gern, streifte allein umher, um der Natur nahe zu sein, um den mächtigen Herzschlag der Welt zu spüren. Nach der High-School hatte sie zwei Monate lang den Appalachian Trail erkundet, und sie kannte den größten Teil des Pacific Coast Trail zwischen der mexikanischen Grenze und San Francisco. Eines Nachmittags im Mai wollte sie einen Ausflug in den San Gabriel Mountains unternehmen, entlang einem schmalen Zufluß des Big Tujunga Creek. Bis nach zwei hatte sie in einem Grill in Pasadena gekellnert, aber vor der Abendessenszeit blieben ihr noch zwei bis drei Stunden. Anderthalb Kilometer weiter oben kannte sie am Fuß eines Steilhangs eine Stauwasserstelle, die von einem dünnen Sturzbach gespeist wurde - sie war noch nie weiter als bis zu dieser Stelle gekommen, aber diesmal wollte sie um die Steilwand herumklettern und dem Bach bis zur Quelle folgen.
    Es waren Mexikaner, glaubte sie. Vielleicht auch Armenier. Sie sprachen englisch. Junge Burschen in Schlabberhosen und glänzend schwarzen Stiefeln. Als sie sie am See

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