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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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überraschte, war das Licht einem leichten Grau gewichen, es lag ein kalter Hauch in der Luft; ihre Augen funkelten vom Bier und vom endlosen Gequatsche, von lauter Geschichten über Frauen und Autos und Drogen. Es war ein ungemütlicher Augenblick, als alle fünf sie mit Blicken durchbohrten, die wie automatisch ihre Figur unter dem weiten Sweatshirt und den Jeans taxierten und zugleich die Entfernung bis zur Straße prüften: wie weit würde ein Schrei zu hören sein? Sie tastete sich um die Steilwand herum, etwas unsicher auf dem losen Fels, stand mit dem Rücken zu ihnen, als sie den Griff der ersten Hand spürte, genau dort - sie zeigte es ihm -, genau dort auf der Wade.
    Delaney hielt den Atem an. Die Stimmen waren abrupt verstummt, abgelöst von einem lastenden Schweigen, das eine Ewigkeit in der Luft zu hängen schien, ehe die Männer wieder zu sprechen anfingen, in lässigem, zufriedenem Tonfall, wie zwei Fliegen, die sich summend auf einem Bordstein niederlassen. Und dann, durch irgendeine akustische Besonderheit des Cañyons, kristallisierten die Stimmen sich unvermittelt, und er hörte jedes einzelne Wort klar und deutlich. Er brauchte eine Weile, bis er begriff: spanisch, sie sprachen spanisch.
    Er ärgerte sich über sich selbst, noch bevor er sich abwandte und versuchte, aus dem Schilf zu schlüpfen wie ein ertappter Voyeur, noch bevor er seine Wahl getroffen hatte. Die Wanderung war vorbei, der Tag ruiniert. Ganz bestimmt würde er nicht aus dem Gebüsch stürmen und sich diese Leute greifen, wer immer sie sein mochten, aber die Schlucht war zu eng, als daß er unentdeckt vorbeikommen konnte. Er hob einen Fuß aus dem Schlamm, dann den anderen, und schob die Schilfhalme mit der Behutsamkeit eines Mannes auseinander, der einem schlafenden Kind die verrutschte Bettdecke zurechtzieht. Das Geräusch des Baches, das bis zu diesem Moment ein Raunen gewesen war, schwoll an zu einem Tosen, und es kam Delaney vor, als kreischten plötzlich alle Vögel im Cañyon. Er blickte auf und sah in das Gesicht eines großen, grobknochigen Latino mit Augen wie Schlammpfützen und einer Mütze der San Diego Padres, die verkehrt herum auf seinem Kopf saß.
    Der Mann kauerte auf einem Felsblock direkt oberhalb von Delaney, keine sieben Meter weit entfernt; wie er dorthin kam und ob er schon die ganze Zeit dort hockte, war Delaney ein Rätsel. Seine eng sitzenden, neuen Bluejeans steckten in abgewetzten Arbeitsschuhen. Er saß mit vor die Brust gezogenen Knien da und entnahm mit übertriebener Sorgfalt seiner Hemdtasche einen Streifen Kaugummi. Er versuchte zu lächeln, zog mit gespielter Lässigkeit die Lippen auseinander, aber Delaney sah, daß der Mann von seinem plötzlichem Auftauchen ebenso überrumpelt und überrascht war wie umgekehrt. »He, amigo, wie geht's so?« sagte der Fremde mit einer Stimme, die irgendwie nicht zu ihm paßte - sie hätte feminin geklungen, wäre sie nicht so kratzig gewesen. Sein Englisch war platt und unelegant.
    Delaney nickte kaum merklich. Er erwiderte das Lächeln nicht und gab keine Antwort. Am liebsten wäre er direkt weitermarschiert, wortlos in Richtung seines Autos gegangen, aber etwas zerrte an seinem Rucksack, und er sah, daß sich sein Schulterriemen im Schilf verfangen hatte. Mit pochendem Herzen beugte er sich vor, um ihn loszumachen, und der Mann auf dem Felsen streckte die Beine aus, als ließe er sich in ein Sofa sinken, stopfte sich den Kaugummi in den Mund und schnippte das Einwickelpapier nachlässig in den Bach. »Bist wandern, wie?« fragte er, und er grinste noch immer. Er grinste und kaute gleichzeitig. »Ich«, fuhr er fort, »ich bin auch wandern. Ich und mein Freund hier.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Freund, der jetzt hinter Delaney auftauchte, vor dem Schilfgürtel.
    Der Freund musterte Delaney mit ausdrucksloser Miene. Das Haar hing ihm in wilden Locken bis auf die Schultern, und an seiner Kinnspitze wuchs ein spärliches Bärtchen. Er trug eine Art Poncho oder serape, mit einem knallbunten Rautenmuster, das vor den sanften Grüntönen des Bachbetts herausstach. Der Aussage seines Partners hatte er nichts hinzuzufügen. Sie waren wandern, dabei blieb es.
    Delaney sah zwischen dem ersten Mann und dessen Begleiter hin und her. Er war nicht beunruhigt, nicht wirklich - dazu war er viel zu wütend. Nein, er dachte an nichts anderes als an den Sheriff und daß diese Leute mitsamt ihrem Müllhaufen hier weg mußten, am besten sollte man sie gleich dorthin

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