American Gods
sehen konnte. Dann platzierte er ihn in die Fingerpalmage der linken Hand, zeigte zwei scheinbar leere Hände vor, hob die Linke an den Mund und hustete einmal, wobei er die Münze von der linken in die rechte Hand fallen ließ.
Der Junge starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dann stürmte er davon, um wenige Augenblicke später mit einer unwilligen Marguerite Olsen im Schlepptau zurückzukehren, die Shadow misstrauisch ansah. »Hallo, Mister Ainsel«, sagte sie. »Leon behauptet, Sie hätten ihm was vorgezaubert.«
»Nur ein bisschen Fingerfertigkeit, Ma’am. Übrigens habe ich mich bei Ihnen noch gar nicht für den guten Ratschlag bedankt, wie man die Wohnung beheizt. Inzwischen hab ich’s richtig schön warm bei mir.«
»Sehr schön.« Ihr eisiger Gesichtsausdruck verriet keinerlei Aussichten auf Tauwetter.
»Das ist eine wunderbare Bücherei hier«, sagte Shadow.
»Es ist ein schönes Gebäude. Aber die Stadt hätte etwas nötig, was vielleicht weniger schön, dafür aber praktischer wäre. Gehen Sie noch nach unten zum Büchereiverkauf?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Das sollten Sie aber. Es ist für einen guten Zweck.«
»Na, dann werde ich es mir nicht nehmen lassen.«
»Gehen Sie durch den Flur und dann die Treppe runter. Bis demnächst, Mister Ainsel.«
»Sagen Sie doch Mike«, sagte er.
Sie sagte gar nichts weiter, sondern nahm Leon stattdessen an die Hand und zog ihn hinüber zur Kinderabteilung.
»Aber Mama«, hörte Shadow den Jungen sagen. »Das waren keine fertigen Finger. Wirklich nicht. Ich hab gesehen , wie sie erst verschwunden und dann aus seiner Nase gefallen ist. Ich hab’s doch gesehen !«
Ein Ölbildnis von Abraham Lincoln blickte von der Wand zu ihm herunter. Shadow stieg die Eichen- und Marmorstufen zum Keller hinab, ging durch eine Tür und betrat einen großen Raum, in dem zahlreiche Tische standen, jeder mit Büchern aller Art bedeckt, bunt gemischt und ohne erkennbare Ordnung: Taschenbücher und Hardcovers, Belletristik und Sachbücher, Zeitschriften und Lexika, alles stand oder lag Seite an Seite auf den Tischen.
Shadow schlenderte durch den Raum zu einem Tisch, auf dem lauter alt aussehende Lederbände lagen, jeweils mit einer weiß aufgemalten Katalognummer auf dem Buchrücken. »Sie sind der Erste überhaupt, der heute in diese Ecke hier kommt«, sagte der Mann, der neben dem Stapel leerer Kisten und Tüten und der kleinen offenen Geldkassette saß. »Die meisten interessieren sich nur für die Krimis, die Kinderbücher und die Liebesromane. Jenny Kerton, Danielle Steele und so weiter.« Der Mann las offenbar gerade in Alibi von Agatha Christie. »Alles, was auf den Tischen liegt, kostet fünfzig Cent pro Buch, oder drei Bücher für einen Dollar.«
Shadow bedankte sich und stöberte weiter. Er fand ein in braunes Leder gebundenes Exemplar von Herodots Historien, das schon in Auflösung begriffen war. Er musste an das Taschenbuchexemplar denken, das er im Gefängnis zurückgelassen hatte. Es gab auch ein Buch namens Sensationelle Salonzaubereien, das so aussah, als könnte es ein paar Münzentricks enthalten. Er trug beide Bücher zu dem Mann mit der Geldkassette.
»Nehmen Sie sich ruhig noch eins, kostet ja trotzdem nur einen Dollar«, sagte der Mann. »Außerdem tun Sie uns einen Gefallen, wenn Sie ein zusätzliches mitnehmen. Wir brauchen den Regalplatz.«
Shadow ging zurück zu den alten Lederbänden. Er beschloss, dasjenige Buch seinem Schicksal zu entreißen, das die geringsten Aussichten besaß, von jemand anders gekauft zu werden, sah sich aber kurz darauf außerstande, eine Entscheidung zwischen Weit verbreitete Erkrankungen der Harnwege, mit ärztlichen Illustrationen und Protokolle des Stadtrats von Lakeside, 1872-1884 zu treffen. Er betrachtete die Illustrationen in dem Medizinbuch und befand, dass es wahrscheinlich irgendwo in der Stadt einen Jungen gab, der das Buch gut gebrauchen konnte, um seine Freunde ein bisschen zu schocken. Er nahm also die Protokolle mit zu dem Mann an der Kasse, der den Dollar in Empfang nahm und alle Bücher in eine braune Einkaufstüte packte.
Shadow verließ die Bücherei. Während der ganzen Fahrt nach Hause hatte er einen klaren Blick auf den See. Er konnte sogar sein Apartmenthaus sehen, das sich wie ein Puppenhaus hinter der Brücke erhob. Da waren Menschen auf dem Eis, nahe der Brücke, vier oder fünf Männer, die gerade ein dunkelgrünes Auto in die Mitte des Sees bugsierten.
»23. März«, beschwor
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