American Gods
Shadow leise murmelnd den See. »Zwischen neun und neun Uhr dreißig.« Er fragte sich, ob der See oder die Rostlaube ihn würden hören können – und ob sie ihm, falls sie es konnten, überhaupt Beachtung schenken würden. Er hatte da so seine Zweifel.
Der Wind blies ihm scharf ins Gesicht.
Officer Chad Mulligan wartete vor Shadows Wohnung. Shadow klopfte sofort das Herz, als er das Polizeiauto sah; er beruhigte sich erst ein wenig, als er feststellte, dass der Polizist vorn saß und mit irgendwelchem Papierkram beschäftigt war.
Er ging mit der Büchertüte unter dem Arm auf den Wagen zu.
Mulligan ließ das Fenster herunter. »Büchereiverkauf?«
»Ja.«
»Ich hab da vor zwei, drei Jahren eine Kiste mit Büchern von Robert Ludlum gekauft. Wollte ich eigentlich immer mal lesen. Mein Cousin schwört auf den. Na ja, schätze, wenn es mich irgendwann mal auf eine einsame Insel verschlägt und ich meine Robert-Ludlum-Kiste dabeihabe, dann kann ich das alles nachholen.«
»Irgendwas Bestimmtes, das ich für Sie tun kann, Chief?«
»Aber wo. Dachte, ich schau einfach mal vorbei und sehe nach, wie Sie sich eingelebt haben. Vielleicht kennen Sie ja das chinesische Sprichwort: Wer jemandem das Leben gerettet hat, der ist für denjenigen verantwortlich. Na gut, ich will nicht behaupten, dass ich Ihnen letzte Woche das Leben gerettet hätte. Aber ich dachte trotzdem, ich sollte mal nachsehen. Wie macht sich das lila Gunthermobil?«
»Gut«, sagte Shadow. »Läuft tadellos.«
»Freut mich zu hören.«
»Ich habe meine Nachbarin in der Bücherei getroffen«, sagte Shadow. »Marguerite Olsen. Und allmählich frage ich mich …«
»Was ihr in den Hintern gekrochen und dort verendet ist?«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«
»Lange Geschichte. Wenn Sie auf eine kleine Tour mitkommen wollen, erzähle ich Ihnen alles.«
Shadow überlegte kurz. »Okay«, sagte er. Er stieg ins Auto und setzte sich auf den Beifahrersitz. Mulligan fuhr nach Norden aus der Stadt heraus. Dann hielt er neben der Straße und schaltete das Licht aus.
»Darren Olsen hat Marge an der University of Wisconsin in Stevens Point kennen gelernt und sie mit zurück in den Norden nach Lakeside gebracht. Ihr Hauptfach war Journalismus. Er studierte, ach Scheiß, Hotelmanagement oder irgend so was. Als sie hier ankamen, haben alle große Augen gemacht. Das war, na, vor dreizehn oder vierzehn Jahren. Sie war so wunderschön … die schwarzen Haare …« Er hielt inne. »Darren führte das Motel America drüben in Camden, zwanzig Meilen westlich von hier. Das Problem war nur, dass anscheinend nie jemand in Camden absteigen wollte, und irgendwann musste das Motel dichtmachen. Sie hatten zwei Jungen. Sandy war zu der Zeit elf. Der Kleine – Leon, stimmt’s? – war noch ein Baby.
Darren Olsen war nie besonders tapfer. Auf der Highschool war er zwar ein guter Footballspieler gewesen, aber das war auch das letzte Mal, dass er sich als Überflieger gezeigt hat. Na egal. Er fand jedenfalls nicht den Mut, Margie zu sagen, dass er seinen Job verloren hatte. Einen Monat, vielleicht zwei Monate lang fuhr er also jeden Morgen früh weg, kam spät am Abend wieder und klagte über den harten Tag, den er im Motel gehabt hätte.«
»Was hat er denn gemacht?«, fragte Shadow.
»Hm. Könnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich würde vermuten, dass er nach Ironwood raufgefahren ist, vielleicht auch runter nach Green Bay. Er wird auf Arbeitssuche gegangen sein. Bald aber hat er seine Zeit vertrunken, sich zugedröhnt und höchstwahrscheinlich hin und wieder ein bisschen schnelle Befriedigung bei einer Prostituierten verschafft. Kann auch sein, dass er im Spielsalon war. Mit Sicherheit weiß ich aber, dass er ihr gemeinsames Konto innerhalb von zehn Wochen leer geräumt hat. Es war nur eine Frage der Zeit, dass Margie dahinter kam – ah, sieh mal an!«
Er schwenkte den Wagen auf die Straße, schaltete die Sirene und die Alarmlichter ein und jagte damit einem Männlein in einem Auto mit Iowa-Kennzeichen, das gerade mit hundertzwanzig den Hügel heruntergekommen war, einen höllischen Schrecken ein.
Nachdem der iowanische Verkehrsrowdy sein Strafmandat in Empfang genommen hatte, kehrte Mulligan zu seiner Geschichte zurück.
»Wo war ich? Ah ja. Margie schmeißt ihn also raus und reicht die Scheidung ein. Es gibt eine wüste Schlacht ums Sorgerecht. So heißt das immer, wenn die Zeitschrift People über solche Fälle berichtet. Schlacht ums Sorgerecht. Sie bekam
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