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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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die Rhythmen Äquatorialafrikas, die sich langsam über dieses Mitternachtsland verbreiten, bis alles zum Takt jener alten Götter zittert und schwingt, deren Reich sie verlassen musste. Aber selbst das, so wird ihr, dort in den Sümpfen, auf gewisse Weise klar, selbst das wird nicht ausreichen.
    Sie wendet sich der hübschen Marie zu und sieht durch Maries Augen sich selbst, eine schwarzhäutige alte Frau, das Gesicht faltig, der knochige Arm steif herabhängend, die Augen einer Person zugehörig, die gesehen hat, wie ihre Kinder mit Hunden um Zugang zu deren Futtertrog gekämpft haben. Sie erblickte sich selbst, und da sah sie zum ersten Mal auch den Abscheu und die Furcht, die die jüngere Frau ihr gegenüber empfand.
    Dann lachte sie, ging in die Hocke und packte mit ihrer gesunden Hand eine schwarze Schlange, die so lang wie ein junger Baum und so dick wie ein Schiffstau war.
    »Hier«, sagte sie. »Das wird unser voudon sein.«
    Sie ließ die gefügige Schlange in einen Korb fallen, den die ängstliche Marie in der Hand hielt.
    Und dann wurde sie, im Mondschein, ein letztes Mal vom zweiten Gesicht ergriffen, und sie sah ihren Bruder Agasu. Es war nicht der zwölfjährige Junge, den sie zuletzt auf dem Marktplatz von Bridgeport gesehen hatte, sondern ein riesiger Mann, kahlköpfig und mit zerbrochenen Zähnen grinsend, der Rücken von tiefen Narben überzogen. In einer Hand hielt er eine Machete. Der rechte Arm war nur ein Stummel.
    Sie streckte ihre gesunde Linke aus.
    »Bleib, bleib ein wenig«, flüsterte sie. »Ich werde da sein. Bald werde ich bei dir sein.«
    Marie Paris aber dachte, die alte Frau spräche zu ihr .

12
    Amerika hat sowohl seine Religion als auch seine Moral in solide, Rendite garantierende Aktien investiert. Es hat die unerschütterliche Haltung einer Nation eingenommen, die gesegnet ist, weil sie den Segen verdient hat; und seine Söhne schließen sich, unabhängig von ihrer sonstigen theologischen Orientierung, diesem Glaubensbekenntnis vorbehaltlos an.
     – Agnes Repplier
     
     
    Shadow fuhr in westliche Richtung, durch Wisconsin und Minnesota nach North Dakota, wo die schneebedeckten Hügel wie riesige schlafende Bisons aussahen. Er und Wednesday bekamen über viele Meilen nichts als nichts zu sehen, davon aber reichlich. Sie wandten sich nach Süden, erreichten South Dakota und näherten sich dem Reservatsland.
    Wednesday hatte die Lincoln-Limousine, mit der Shadow gern gefahren war, gegen einen schwerfälligen uralten Winnebago getauscht, der durchdringend und unverkennbar nach rolligem Kater roch und sich überhaupt nicht gut fahren ließ.
    Als sie das erste Hinweisschild auf den entfernten Mount Rushmore passierten, grunzte Wednesday. »Was ein heiliger Ort«, sagte er.
    Shadow hatte gedacht, dass Wednesday eingeschlafen wäre. »Ich weiß, dass er früher den Indianern heilig war«, sagte er.
    »Ein heiliger Ort also«, sagte Wednesday. »Das ist mal wieder typisch für die Amerikaner – sie müssen sich immer einen Vorwand schaffen, um irgendwo hinzufahren und zu huldigen. Heutzutage kann man nicht einfach hergehen und sich einen Berg angucken. Daher Mister Gutzon Borglums gewaltige Präsidentengesichter. Sobald sie fertig gemeißelt waren, wurde die Erlaubnis erteilt, und jetzt kommen die Leute in Massen herausgefahren, um etwas in natura zu besichtigen, was sie schon auf tausend Postkarten gesehen haben.«
    »Es gab da mal jemanden, der im Fitnesscenter Gewichte gestemmt hat, ist schon etliche Jahre her. Der hat erzählt, dass die Dakota-Indianer, also die jungen Männer, den Berg rauf klettern und dann an den Köpfen hinunter todesverachtende menschliche Ketten bilden, nur damit derjenige, der das Ende der Kette bildet, dem Präsidenten auf die Nase pissen kann.«
    Wednesday lachte brüllend. »Oh, großartig! Ganz ausgezeichnet! Und richtet sich ihr Zorn auf einen ganz bestimmten Präsidenten?«
    Shadow zuckte die Achseln. »Davon hat er nichts erzählt.«
    Die Meilen entschwanden unter den Rädern des Winnebago. Shadow stellte sich vor, er würde bewegungslos verharren, während die amerikanische Landschaft mit gleich bleibender Geschwindigkeit, fünf Stundenkilometer über dem Tempolimit, an ihnen vorbeizog. Winterlicher Dunst ließ alles von den Rändern her beschlagen.
    Es war gegen Mittag des zweiten Tages ihrer Reise, und sie waren schon fast am Ziel. Shadow, der in Gedanken versunken gewesen war, sagte auf einmal: »Letzte Woche ist ein Mädchen aus Lakeside

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