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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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anderen, aber die Witwe Paris (ich werde Ihnen jetzt den Namen verraten, mit dem sie geboren wurde und den sie später berühmt machte: Es war Marie Laveau. Aber es handelt sich nicht um die große Marie Laveau, die, von der Sie gehört haben; unsere war ihre Mutter, die schließlich zur Witwe Glapion wurde) zeigte kein Interesse für die Götter eines fernen Landes. War Santo Domingo ein üppiger schwarzer Boden gewesen, in dem die afrikanischen Götter gedeihen konnten, so war dieses Land mit seinem Mais und seinen Melonen, seinen Langusten und seiner Baumwolle, karg und unfruchtbar.
    »Sie verlangt nicht nach Wissen«, beklagte sich Mama Zouzou bei Clementine, ihrer Vertrauten, die für viele Haushalte in jenem Bezirk die Wäsche, insbesondere Vorhänge und Tagesdecken, bei sich zu Hause wusch. Clementine hatte ein Blütenmeer von Brandspuren auf den Wangen, und eines ihrer Kinder hatte tödliche Verbrühungen erlitten, als einmal einer der Waschkessel umgestürzt war.
    »Dann lehre sie halt nicht«, sagt Clementine.
    »Ich lehre sie, aber sie erkennt nicht, was wertvoll ist – alles was sie sieht, ist das, was sie damit machen kann. Ich gebe ihr Diamanten, aber sie will nur hübsches Glas. Ich gebe ihr eine Korbflasche des besten Rotweins, sie aber trinkt Flusswasser. Ich gebe ihr Wachteln, aber sie zieht es vor, Ratten zu essen.«
    »Und warum machst du dann weiter?«, fragt Clementine.
    Mama Zouzou zuckt mit ihren dünnen Schultern, wovon ihr verkrüppelter Arm ins Zittern gerät.
    Sie kann nicht antworten. Sie könnte sagen, dass sie lehrt, weil sie dankbar ist, am Leben zu sein, und das ist sie auch: Sie hat zu viele Menschen sterben sehen. Sie könnte sagen, sie träume davon, dass die Sklaven sich eines Tages erheben würden, wie sie es in LaPlace taten (wo sie allerdings besiegt wurden), aber in ihrem Herzen weiß sie, dass sie ohne die Götter Afrikas, ohne die Gunst ’Legbas und Mawus, ihre weißen Herren niemals überwinden, niemals in ihre Heimat zurückkehren werden.
    Als sie, in jener furchtbaren Nacht fast zwanzig Jahre zuvor, erwachte und den kalten Stahl zwischen ihren Rippen fühlte, war das der Moment gewesen, in dem Mama Zouzous Leben zu Ende ging. Jetzt war sie jemand, der nicht lebte, sondern einfach nur hasste. Hätte man sie zu diesem Hass befragt, wäre sie nicht in der Lage gewesen, von dem zwölfjährigen Mädchen auf dem stinkenden Schiff zu berichten: Diese Wunde war verschorft – es hatte zu viele Auspeitschungen und Prügel gegeben, zu viele Nächte in Ketten, zu viele Abschiede, zu viel Leid. Von ihrem Sohn aber hätte sie berichten können, davon, wie ihm der Daumen abgeschnitten worden war, als ihr Herr entdeckte, dass der Junge lesen und schreiben konnte. Sie hätte von ihrer Tochter, zwölf Jahre alt und von einem Aufseher bereits im achten Monat schwanger, berichten können, davon, wie man, den schwangeren Bauch des Mädchens aufzunehmen, ein Loch in die rote Erde grub und sie dann auspeitschte, bis ihr der Rücken blutete. Trotz des mit Sorgfalt gegrabenen Loches hatte ihre Tochter an jenem Sonntagmorgen, als all die Weißen in der Kirche waren, ihr Kind und ihr Leben verloren …
    Zu viel Leid.
    »Huldige ihnen«, sagte Mama Zouzou im Bayou zu der jungen Witwe Paris, eine Stunde nach Mitternacht. Sie waren beide bis zur Taille nackt, schwitzten in der feuchten Nachtluft, und der weiße Mondschein betonte ihre dunkle Haut.
    Jacques, der Mann der Witwe Paris (dessen Tod drei Jahre später einige bemerkenswerte Züge tragen sollte), hatte Marie ein wenig über die Götter von Santo Domingo erzählt, aber das interessierte sie nicht. Die Macht kam von den Ritualen, nicht von den Göttern.
    Gemeinsam sangen Mama Zouzou und die Witwe Paris in den Sümpfen die Totenklage, sangen leise und stampften mit den Füßen. Sie beschworen die schwarzen Schlangen, die freie Farbige und die Sklavin mit dem verkrüppelten Arm.
    »Es geht um mehr als nur: Du hast Erfolg, dein Feind hat Misserfolg«, sagte Mama Zouzou.
    Viele der zeremoniellen Worte, Worte, die sie einst gekannt, die auch ihr Bruder gekannt hatte, waren ihrem Gedächtnis entfallen. Sie sagte der hübschen Marie Laveau, dass es auf die Worte nicht ankomme, sondern nur auf die Melodie und auf den Rhythmus, und dann hat sie dort im Sumpf, während sie singend und Takt schlagend die schwarzen Schlangen beschwört, eine seltsame Vision. Sie sieht die Taktschläge der Lieder, sieht den Takt der Calinda, den Takt der Bamboula, all

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