American Gods
sein?«
»Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Du warst wichtig für uns, weil du wichtig für Wednesday warst. Was den Grund dafür angeht … Ich schätze, das ist eins von den kleinen Rätseln, vor die uns das Leben stellt.«
»Ich habe die Nase voll von Rätseln.«
»Ach ja? Ich finde, sie geben der Welt erst die Würze. Wie das Salz im Eintopf.«
»Du bist also deren Fahrer. Wen fährst du, alle?«
»Wer immer mich gerade braucht«, sagte Loki. »Man kann davon leben.«
Er hob seine Armbanduhr zum Gesicht und drückte auf einen Knopf: Das Zifferblatt glomm sanftblau auf, erleuchtete sein Gesicht und gab ihm dadurch einen unheimlichen, gehetzten Ausdruck. »Fünf vor zwölf. Es wird Zeit«, sagte Loki. »Kommst du?«
Shadow holte tief Luft. »Ich komme«, sagte er.
Sie gingen durch den dunklen Motelflur, bis sie zum Zimmer Nummer fünf gelangten.
Loki holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete ein Holz mit dem Daumennagel an. Das kurze Aufflammen tat Shadow in den Augen weh. Ein Kerzendocht begann flackernd zu brennen. Danach ein zweiter. Loki riss ein weiteres Streichholz an und fuhr fort, die Kerzenstummel zu entfachen: Es standen welche auf den Fensterbrettern, auf dem Kopfende des Bettes und auf dem Spülbecken in der Zimmerecke.
Das Bett, das normalerweise wohl an der Wand stand, war in die Mitte des Zimmers gezogen worden, sodass auf allen Seiten etwas Platz bis zur jeweiligen Wand war. Über das Bett waren Laken gezogen, alte Motelbettlaken, fleckig und von Motten zerfressen. Wednesday lag völlig bewegungslos auf diesen Laken.
Er trug denselben blassgrauen Anzug, den er bei seiner Ermordung getragen hatte. Die rechte Seite des Gesichts war unversehrt, unberührt, von keinerlei Blut entstellt. Von der linken Seite war kaum etwas übrig, die linke Schulter und die Brustpartie seines Anzugs waren mit dunklen Flecken übersät. Die Hände lagen neben dem Körper. Der Ausdruck in diesem zerstörten Gesicht war alles andere als friedlich – er wirkte verletzt, verletzt in tiefster Seele, erfüllt von Hass und Wut und blankem Wahnsinn. In gewisser Weise aber auch hochzufrieden.
Shadow stellte sich vor, wie Mr. Jacquel mit seinen erfahrenen Händen diesen Hass und Schmerz wegglätten, mit Wachs und Schminke Wednesdays Gesicht rekonstruieren würde, um ihm den letzten Frieden und die Würde zu sichern, die selbst der Tod ihm verweigert hatte.
Immerhin, der Körper schien im Tod nicht kleiner geworden zu sein. Und nach wie vor roch er leicht nach Jack Daniel’s.
Der Wind, der über die Ebene strich, wurde stärker. Shadow hörte, wie er um das alte Motel am Mittelpunkt Amerikas herumpfiff. Die Kerzen auf der Fensterbank flackerten.
Er hörte Schritte im Flur. Jemand klopfte an eine Tür, rief: »Beeilung bitte, es ist Zeit«, und dann kamen sie nacheinander mit gesenkten Köpfen hereingeschlurft.
Town war der Erste, gefolgt von Media und Mr. Nancy und Tschernibog. Als Letzter kam der dicke Junge: Er hatte frische Schrammen und blaue Flecken im Gesicht und bewegte unentwegt die Lippen, als würde er sich irgendetwas vorsagen, zu hören war jedoch nichts. Wider Willen empfand Shadow etwas Mitleid mit ihm.
Zwanglos, ohne dass ein Wort gesprochen wurde, verteilten sie sich im Abstand von jeweils einer Armlänge um den Leichnam herum. Die Atmosphäre im Zimmer wirkte religiös – tief religiös auf eine Art, wie Shadow es nie zuvor erlebt hatte. Außer dem Heulen des Windes und dem Knistern der Kerzen war kein anderer Laut zu hören.
»Wir sind hier an diesem gottlosen Ort zusammengekommen«, sagte Loki, »um den Leichnam dieses Individuums denjenigen zu übergeben, die nach dem hergebrachten Ritual über ihn verfügen werden. Wer etwas zu sagen hat, der sage es jetzt.«
»Ich nicht«, sagte Town. »Ich habe den Mann praktisch gar nicht gekannt. Überhaupt ist mir die ganze Sache unbehaglich.«
»Das Ganze wird Folgen haben«, sagte Tschernibog. »Ist euch das klar? Das alles kann nur der Anfang von allem sein.«
Der dicke Junge begann zu kichern, ein schrilles, mädchenhaftes Geräusch. Er sagte: »Okay. Okay, ich hab’s.« Und dann, immer auf derselben Tonhöhe, rezitierte er:
›Kreisend und kreisend in immer weiterem Bogen
Entschwindet der Falke dem Ruf des Falkeniers.
Alles fällt auseinander! die Mitte hält nicht mehr …‹
Er brach ab und legte die Stirn in Falten. Dann sagte er: »Scheiße, ich konnte mal das ganze Ding auswendig«, rieb sich die
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