American Gods
»Es macht nichts, dass Sie nicht an uns geglaubt haben«, sagte er. »Wir haben an Sie geglaubt.«
Das Boot stieß auf Grund. Mr. Ibis trat seitlich ins Wasser hinaus und wies Shadow an, es ihm gleichzutun. Er holte ein Tau aus dem Bug und gab Shadow die Laterne zum Tragen. Sie hatte die Form eines Halbmondes. Sie gingen an Land, und Mr. Ibis vertäute das Boot an einem in den Felsboden eingelassenen Metallring. Dann nahm er Shadow die Lampe ab und schritt zügig voran, die Lampe nach oben haltend, wobei sie gewaltige Schatten über den Felsboden und die hohen Felswände warf.
»Haben Sie Angst?«, fragte Mr. Ibis.
»Eigentlich nicht.«
»Also, bis wir da sind, sollten Sie versuchen, ein Gefühl echter Ehrfurcht und spirituellen Entsetzens zu entwickeln. Das wäre angesichts dessen, was hier ansteht, die angemessene Haltung.«
Shadow hatte keine Angst. Er verspürte Interesse, Besorgnis auch, aber nicht mehr. Angst hatte er weder vor der beweglichen Dunkelheit noch vor dem Tod, nicht einmal vor dem hundeköpfigen Geschöpf von der Größe eines Getreidesilos, das ihnen da jetzt entgegenstarrte. Es knurrte aus tiefer Kehle, und Shadow fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten.
»Shadow«, sagte es. »Die Zeit des Gerichts ist gekommen.«
Shadow blickte zu der Kreatur hinauf. »Mr. Jacquel?«, sagte er.
Anubis senkte die Hände herab, riesige dunkle Hände, ergriff Shadow und hob ihn hoch.
Der Schakalskopf begutachtete ihn mit hellen und funkelnden Augen, untersuchte ihn so leidenschaftslos, wie Mr. Jacquel die tote Frau auf der Totenbank untersucht hatte. Shadow wusste, dass alle seine Fehler, alle seine Schwächen, alle seine Sünden registriert, gewogen und abgeschätzt wurden, dass er in gewisser Weise seziert, zerschnitten und verkostet wurde.
Nicht immer erinnern wir uns der Dinge, die uns nicht zur Ehre gereichen. Wir suchen sie zu rechtfertigen, verpacken sie in Notlügen oder bedecken sie mit dem dicken Staub der Vergesslichkeit. Was immer Shadow in seinem Leben getan hatte, auf das er nicht stolz war, was immer er gern anders gemacht oder ganz gelassen hätte, all das stürmte nun in einem Wirbel von Schuld, Bedauern und Scham auf ihn ein, und es gab keine Möglichkeit, sich davor zu verstecken. Er war so nackt und offen wie eine Leiche auf dem Seziertisch, und Anubis, der dunkle Schakalgott, war nicht nur sein Prosektor, er war auch Ankläger und Richter in einem.
»Bitte«, sagte Shadow. »Bitte aufhören.«
Aber die Untersuchung hörte nicht auf. Jede Lüge, die er je ausgesprochen, jeder Gegenstand, den er je gestohlen, jede Verletzung, die er anderen je zugefügt hatte, all die kleinen Verbrechen und klitzekleinen Morde, aus denen ein Tag sich zusammensetzt, all dies und noch mehr wurde von dem schakalsköpfigen Richter der Toten ans Licht befördert.
Shadow begann dort auf dem Handteller des dunklen Gottes fürchterlich zu weinen. Er war wieder ein winziges Kind, hilfloser und machtloser denn je.
Und dann, ganz unvermittelt, war es vorbei. Shadow keuchte und schluchzte, der Rotz lief ihm aus der Nase; noch immer fühlte er sich hilflos, während Anubis ihn vorsichtig, fast zärtlich, auf den Felsboden zurückstellte.
»Wer hat sein Herz?«, knurrte Anubis.
»Ich«, schnurrte eine Frauenstimme. Bastet stand neben dem Ding, das nicht mehr Mr. Ibis war, und hielt Shadows Herz in der rechten Hand. Es verlieh ihrem Gesicht einen rubinroten Schimmer.
»Gib her«, sagte Thoth, der ibisköpfige Gott. Er nahm das Herz in seine Hände, die keine menschlichen Hände waren, und glitt vorwärts.
Anubis stellte vor ihm eine goldene Waage auf.
»Hier also ermitteln wir, was ich bekomme?«, flüsterte Shadow Bastet zu. »Himmel? Hölle? Fegefeuer?«
»Wenn die Feder im Gleichgewicht bleibt«, sagte sie, »kannst du selber wählen, wo du hinwillst.«
»Und wenn nicht?«
Sie zuckte die Achseln, als wäre ihr nicht wohl bei diesem Gedanken. Schließlich sagte sie: »Dann werfen wir dein Herz und deine Seele Ammit vor, der Verschlingerin der Seelen …«
»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht ist mir ja irgendein Happyend beschert.«
»Es gibt nicht nur keine Happyends«, erwiderte sie. »Es gibt nicht einmal ein Ende.«
Auf eine der Waagschalen legte Anubis vorsichtig, ja geradezu ehrerbietig, eine Feder.
Auf die andere Waagschale legte er Shadows Herz. Etwas bewegte sich im Schatten unter der Waage, etwas, das Shadow so viel Unbehagen bereitete, dass er es nicht näher in Augenschein
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