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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Offenbarungen gingen ganz schön ins Persönliche.«
    »Alle Offenbarungen gehen ins Persönliche«, sagte sie. »Deshalb sind alle Offenbarungen fragwürdig.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ja«, sagte sie. »Tust du nicht. Ich werde dein Herz nehmen. Wir brauchen es später.« Und sie griff ihm mit einer Hand tief in den Brustkorb und hielt, als sie sie wieder herauszog, etwas Rubinartiges und Pulsierendes zwischen ihren scharfen Fingernägeln. Es hatte die Farbe von Taubenblut und bestand aus purem Licht. Gleichmäßig dehnte es sich aus und zog sich wieder zusammen.
    Sie schloss die Hand, und es war verschwunden.
    »Nimm den mittleren Weg«, sagte sie.
    Shadow nickte und ging weiter.
    Der Weg wurde jetzt rutschig. Auf dem Fels lag Eis. Der Mond über ihm glitzerte durch die in der Luft schwebenden Eiskristalle: Um den Mond war ein Ring, ein Mondbogen, der das Licht zerstreute. Es war wunderschön, erschwerte aber das Gehen. Der Weg war unsicher.
    Er erreichte den Punkt, wo der Pfad sich teilte.
    Er betrachtete den ersten Pfad mit einem Gefühl des Wiedererkennens. Er führte in einen riesigen Raum oder eine Flucht von Räumen, wie in ein dunkles Museum. Er kannte es bereits. Er konnte die lang gezogenen Echos winziger Geräusche hören. Er konnte den Lärm hören, den Staub machte, wenn er sich legte.
    Es war der Ort, von dem er in jener ersten Nacht im Motel geträumt hatte, so lange war das jetzt schon her, damals, als Laura zu ihm gekommen war: die endlose Gedächtnishalle für die Götter, die vergessen waren, und jene, deren Existenz völlig ausgelöscht war.
    Er trat einen Schritt zurück.
    Er ging zu dem Pfad auf der anderen Seite und blickte nach vorn. Der Korridor hatte etwas von Disneyland: schwarze Plexiglaswände mit darin eingelassenen Lampen. Das Blinken und Leuchten der bunten Lichter vermittelte die Illusion von Funktionalität wie bei den Schaltpultlampen in einem Fernsehraumschiff.
    Auch von dort war etwas zu hören: ein tiefes, vibrierendes Brummen, das Shadow in der Magengrube spürte.
    Er hielt inne und sah sich um. Keiner der beiden Wege schien der richtige zu sein. Nicht mehr. Mit Wegen war er fertig. Der mittlere, der Weg, den die Katzenfrau ihm gewiesen hatte, das war seiner. Er ging darauf zu.
    Der Mond über ihm verblasste allmählich: Der Rand zackte aus und ging in Finsternis über. Der Pfad wurde von einem gewaltigen Torweg umrahmt.
    Shadow schritt durch den in Dunkelheit liegenden Bogen. Die Luft war warm und roch nach nassem Staub wie die Straßen einer Stadt nach dem ersten Sommerregen.
    Er hatte keine Angst.
    Jetzt nicht mehr. Die Angst war am Baum gestorben, wie Shadow selbst. Es war keine Furcht übrig, kein Hass, kein Schmerz. Nichts mehr übrig als der reine Kern.
    Etwas Großes platschte leise in einiger Entfernung, und das Platschen hallte in die Weite hinein. Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts sehen. Es war zu dunkel. Dann aber schimmerte aus der Richtung des Platschens ein Geisterlicht, und die Welt nahm Gestalt an: Er stand in einer Höhle, und vor ihm, glatt wie ein Spiegel, war Wasser.
    Die Platschgeräusche kamen näher und das Licht wurde heller, und Shadow wartete am Ufer. Schon bald kam ein flaches Boot in Sicht, auf dessen erhöhtem Bug eine weiße Laterne flackerte und ein paar Fuß darunter im glasigen schwarzen Wasser auch deren Spiegelbild. Das Boot wurde von einer hoch aufgeschossenen Gestalt gestakt, und das platschende Geräusch, das Shadow gehört hatte, rührte vom Eintauchen und Bewegen der Stange her, die das Schiff über das Wasser des unterirdischen Sees schob.
    »Hallo da!«, rief Shadow. Plötzlich war er von seinem Echo umgeben: Es klang, als würde ein ganzer Chor ihn willkommen heißen, ein Chor, in dem jeder mit seiner Stimme rief.
    Die Person im Boot gab keine Antwort.
    Der Bootsführer war groß und sehr mager. Er – sofern es ein Er war – trug ein schmuckloses weißes Gewand, und der blasse Kopf darüber war so ausgesprochen menschenunähnlich, dass Shadow ihn für eine Maske hielt: Es war ein eher kleiner Vogelkopf, der auf einem langen Hals saß und einen langen, hohen Schnabel aufwies. Shadow war sich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben, diese geisterhafte vogelartige Gestalt zu kennen. Er kramte im Gedächtnis und erkannte schließlich etwas enttäuscht, dass es der Münzeinwurfautomat im House on the Rock war, den er vor Augen gehabt hatte, und darin die nur flüchtig erblickte blasse, vogelähnliche Gestalt,

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