Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
die hinter der Krypta hervorgehuscht war, um sich des Trinkers Seele zu holen.
    Wasser tropfte und hallte von der Stange und dem Bug, und das Kielwasser des Schiffes zerfurchte die gläserne Oberfläche des Sees. Das Boot war aus Schilfrohr geflochten und gebunden.
    Jetzt näherte es sich dem Ufer. Der Bootsmann stützte sich auf die Stange. Langsam drehte er den Kopf, bis er Shadow zugewandt war. »Hallo«, sagte er, ohne den langen Schnabel zu bewegen. Es war eine männliche Stimme, die – wie bislang alles in Shadows Leben nach dem Tode – vertraut klang. »Kommen Sie an Bord. Sie werden dabei leider nasse Füße bekommen, aber das lässt sich beim besten Willen nicht vermeiden. Diese Boote sind sehr alt, und wenn ich dichter herankomme, könnte ich den Boden aufreißen.«
    Shadow zog die Schuhe aus und trat ins Wasser hinein. Es reichte ihm bis zu den Waden und war, sobald man sich ans Nasse gewöhnt hatte, überraschend warm. Der Bootsmann reichte ihm die Hand und zog ihn an Bord. Das Schilfboot schaukelte etwas, wobei Wasser über die niedrigen Ränder spritzte, aber gleich darauf lag es wieder ruhig.
    Der Bootsmann stieß vom Ufer ab. Shadow stand mit tropfenden Hosenbeinen da und sah zu.
    »Ich kenne Sie«, sagte er zu dem Geschöpf am Bug.
    »In der Tat«, sagte der Bootsführer. Die Öllampe, die am Bug hing, brannte jetzt unruhiger, und von dem aufsteigenden Rauch musste Shadow husten. »Sie haben für mich gearbeitet. Leider mussten wir Lila Goodchild ohne Ihre Hilfe bestatten.« Die Stimme klang pedantisch.
    Der Rauch brannte Shadow in den Augen. Er wischte die Tränen mit der Hand weg und meinte, durch den Rauch einen großen Mann in Anzug und mit Goldrandbrille zu erkennen. Dann verzog sich der Rauch, und der Bootsführer war wieder ein halbmenschliches Geschöpf mit dem Kopf eines Flussvogels.
    »Mister Ibis?«
    »Schön, Sie zu sehen«, sagte das Geschöpf mit Mr. Ibis’ Stimme. »Wissen Sie, was ein Psychopompos ist?«
    Shadow glaubte das Wort schon einmal gehört zu haben, aber es war lange her. Er schüttelte den Kopf.
    »Ein gehobener Ausdruck für eine Art Begleitperson«, sagte Mr. Ibis. »Wir haben alle so viele Funktionen, so viele Erscheinungsweisen. Ich selber sehe mich als einen Gelehrten, der ruhig für sich lebt, seine kleinen Geschichten aufschreibt und dabei von einer Vergangenheit träumt, die vielleicht mal existiert hat oder auch nicht. Und zu einem gewissen Grad trifft das auch zu. Doch daneben bin ich, in einer meiner anderen Eigenschaften, ein Psychopompos, wie so viele derer, denen Sie sich angeschlossen haben. Ich begleite die Lebenden in die Welt der Toten.«
    »Ich dachte, das hier wäre schon die Welt der Toten«, sagte Shadow.
    »Nein. Nicht per se. Es ist eher eine Vorstufe.«
    Das Boot glitt über die Spiegeloberfläche des unterirdischen Tümpels. Und dann sagte Mr. Ibis wieder, ohne den Schnabel zu bewegen: »Ihr redet immer über die Lebenden und die Toten, als wären das Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen. Als könnte man nicht einen Fluss nehmen, der auch eine Straße ist, oder ein Lied, das ebenso eine Farbe ist.«
    »Kann man doch auch nicht«, sagte Shadow. »O der?« Das Echo flüsterte ihm seine Worte quer über den Tümpel zurück.
    »Sie sollten im Auge behalten«, sagte Mr. Ibis gereizt, »dass Leben und Tod zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Wie Kopf und Zahl bei einer Geldmünze.«
    »Und wenn ich eine Münze mit zwei Köpfen hätte?«
    »Haben Sie aber nicht.«
    Shadow lief, während sie das dunkle Wasser überquerten, ein Schauer über den Rücken. In seiner Einbildung sah er vorwurfsvolle Kindergesichter durch die gläserne Wasseroberfläche zu sich heraufstarren: Ihre Gesichter waren vom Wasser weichgezeichnet, ihre blinden Augen blickten trübe. In dieser Höhle gab es keinen Wind, der die schwarze Oberfläche des Sees aufzurühren vermocht hätte.
    »Also bin ich tot«, sagte Shadow. »Oder werde bald tot sein.«
    »Wir sind auf dem Weg zur Halle der Toten. Ich habe darum gebeten, derjenige sein zu dürfen, der Sie abholt.«
    »Warum?«
    »Sie haben gut gearbeitet. Warum sollte ich also nicht?«
    »Weil …« Shadow ordnete seine Gedanken. »Weil ich nie an euch geglaubt habe. Weil ich nicht viel von ägyptischer Mythologie verstehe. Weil ich mit alldem nicht gerechnet habe. Was ist eigentlich mit dem heiligen Petrus und seiner Himmelspforte?«
    Mit großem Ernst drehte Mr. Ibis den langschnabeligen weißen Kopf hin und her.

Weitere Kostenlose Bücher